Zwangsstörungen gehen mit Zwangshandlungen oder Zwangsgedanken oder beidem einher.

Zwangshandlung: Es tritt Angst auf, wenn eine bestimmte Handlung, zum Beispiel das Händewaschen, nicht ausgeführt werden kann oder soll. Um diese Angst zu vermeiden, geben die Patienten ihrem Zwangsimpuls nach. Sobald sie das tun, stellt sich Entlastung ein, wenn auch nicht unbedingt für lange. Das Verhalten kann exzessiv werden: Waschen, bis die Haut aufplatzt, oder Unfähigkeit, das Haus zu verlassen, weil man die Fenster immer wieder kontrollieren muss. Manche Symptome haben jeden Bezug zum normalen Leben verloren, wie bei dem Zwang, dass man nicht auf die Fugen zwischen Bürgersteigplatten treten darf, oder dass man alle Ziffern auf Nummernschildern addieren muss. Menschen mit solchen Zwangshandlungen kommen nur noch langsam voran.

Umgekehrt gibt es auch Handlungen, die ein Patient garantiert nie ausführen würde, die ihn aber als Vorstellung immer wieder heimsuchen. Man spricht dann von Zwangsgedanken: Im Geiste greifen die Betroffenen nach dem Messer und gehen auf ihre Familie los oder betätigen sich sexuell in einer Weise, die sie sich nie erlauben würden. Zwangsgedanken werden als Ich-fremd, beschämend und beängstigend empfunden. Manche Leute wissen, dass sie zu solchen Taten nicht fähig wären, leiden aber unter ihrer „krankhaften Fantasie“; andere sind sich ihrer selbst nicht sicher und fürchten, zu Mördern zu werden.

Weiterhin gibt es Zwangsgedanken oder –handlungen mit „bannendem Charakter“: Immer wenn die Betroffenen sich ihrer Meinung nach falsch verhalten haben oder auch nur einen aggressiven oder obszönen Gedanken hatten, müssen sie rituell einen frommen Gedanken hinterherschicken, drei Schritte rückwärtsgehen oder etwas anderes tun, was ihrem Empfinden nach die Verfehlung ausgleicht. Anders als zum Beispiel beim Waschzwang ist den Patienten hier noch bewusst, was ihre Angst ausgelöst hat, die sie selbst als überzogen betrachten, ebenso wie sie das Zwangsritual als lästig und aufdringlich, aber unvermeidbar erleben. Erst die subjektive Belastung macht den Krankheitswert. Wer drei Kreuze über sich schlägt, um sich zu schützen, und sich damit wohlfühlt, der ist nicht krank, sondern zieht Nutzen aus seinem Glauben an höhere Mächte. Wer sich an Essens-, Sport- oder Arbeitsrituale gewöhnt hat, neigt zum zwanghaften Charakter (siehe Angst – Charaktere – Teil I), kriegt so aber sein Leben vielleicht in den Griff.

Das „Ungeschehen-machen-wollen“ ist ein häufiger Mechanismus der menschlichen Psyche, der nicht immer mit Zwangssymptomen einhergehen muss. Wenn der Chef heute sehr angetan mit einer Mitarbeiterin geflirtet hat und ihm dies später unangenehm ist (ein Umstand, die ihm gar nicht bewusst werden braucht), behandelt er sie morgen spürbar geringschätzig, und schon hat er seine ihm selbst verdächtige Zuneigung „ungeschehen gemacht“. Seine Seele ist jetzt beruhigt (im Gegensatz zu der der Mitarbeiterin) – jedenfalls bis zum nächsten Flirt (den die Mitarbeiterin hoffentlich im Keim erstickt). Erst wenn solche Mechanismen, die mehr zu Lasten der Mitmenschen gehen, nicht mehr wirken, setzen Zwangssymptome ein. Zwänge jeder Art stören nachhaltig den geregelten Handlungs- und Gedankenablauf und neigen dazu, sich auszuweiten.

Psychodynamisch entstehen Zwänge teils aus Ängsten, teils aus verpönten Regungen sexueller oder aggressiver Art, die nicht bewusst werden sollen. Zwangshandlungen dienen der Abwehr, wobei die ursprünglichen Gefühle oft nur so notdürftig maskiert sind, dass sie sich dem Beobachter eher erschließen, als dem Betroffenen, der sie nicht wahrhaben will. Wer zwanghaft denkt, dass er jemanden massakrieren will, der, so folgert der Außenstehende, wird wohl wirklich ein Problem mit dieser Person haben. Der Betroffene streitet es allerdings energisch ab. Zwangswaschungen dienen symbolisch dazu, „sich reinzuwaschen“. Hinter Kontrollmustern verbirgt sich der Wunsch, dass kein Kontrollverlust sexueller oder aggressiver Art eintreten möge, oder dass äußeres Unheil – Krankheit, Liebesverlust – ferngehalten werde. Das klingt natürlich magisch, und so sind diese Zusammenhänge den Betroffenen selbst auch unbewusst. Bewusst hat kein vernünftiger Deutscher die Hoffnung, dass er sein Leben besser bewältigen wird, wenn er nicht auf die Fugen tritt. In unsern frühen Persönlichkeitsanteilen sind wir jedoch abergläubisch, und so setzen sich auf unbewussten Wegen Handlungsweisen durch, die bei manchen Naturvölkern noch ganz offen bejaht werden. Und auch auf uns Industriemenschen bleibt die Siegesgewissheit, mit der ein Haitianer die Puppenbilder seiner Feinde beim Voodoo durchbohrt, nicht ganz ohne Eindruck.

Der Zwangspatient entwickelt seine Rituale, weil er von Impulsen erlöst werden möchte, die er nicht ertragen kann, weil er zur gleichen Zeit auch genau gegensätzlich empfindet. Zum Beispiel streitet die Wut mit der Friedfertigkeit um die Oberhand. Im Fall eines solchen inneren Zwiespalts sprechen wir von einer „Ambivalenz“. Es wütet der Kampf zwischen zwei Mächten, von denen die eine als gut, aber schwierig, die andere als böse, aber verlockend erlebt wird. Ambivalenzen gehören zu jeder menschlichen Seele, und wäre es nur in der Form, dass wir uns mit einer Entscheidung schwertun. Wir alle habe unsere liebe Mühe zu begreifen, dass wir manche Wünsche aufgeben oder Nachteile akzeptieren müssen.

Die Zwangssymptomatik stellt einen faulen Kompromiss zwischen Strebungen dar, die eigentlich unvereinbar sind: Wer glaubt, dass er sich durch ständiges Händewaschen von „schmutzigen Ideen“ befreien kann, darf nämlich heimlich weitermachen – er besitzt ja ein Mittel gegen den selbsterzeugten „Dreck“ – das Zwangsritual. In der Therapie sind Zwangsgedanken besser zu beeinflussen als Zwangshandlungen, denn erstere werden als unnatürlich und quälend erlebt, während letztere subjektiv  eher Erleichterung bringen. So sind es oft die Angehörigen, die einen Patienten mit Zwangshandlungen zur Behandlung nötigen, weil sie den immer stärker werdenden Wasch- oder Sortierzwang nicht mehr ertragen können. Die Betroffenen selbst lassen nicht so gern ab, für sie funktioniert es irgendwie noch, und sie sind oft wenig veränderungsmotiviert. Erst wenn die Zwangshandlungen nicht mehr ausreichen, um  anflutende Ängste zu binden, wird eine Behandlung angestrebt. Doch auch in diesem Fall klammert sich der Patient zunächst weiter an seine gewohnten Rituale.

Kein Wunder: Wenn wir uns klar gemacht haben, dass der Zwang ein Mittel ist, um beängstigende Ambivalenzen auszubalancieren, müssen wir uns fragen, was nun gegen diesen Zustand des Mit-sich-uneins-Seins helfen kann, wenn auf den oft schwer behindernden Zwang verzichtet werden soll. Natürlich will man die Patienten über sich selbst beruhigen und mit ihnen erarbeiten, dass sie oder ihre Gedanken „gar nicht so schlimm sind“. Leichter gesagt als getan. Denn den Patienten ist ihr innerer Widerstreit und insbesondere ihre Scham darüber unbewusst. Zwangspatienten präsentieren sich im Gegenteil als untadelig und schildern eher, wie schlecht sich der Rest der Welt aufgeführt hat. In der Tat sind Zwangspatienten häufig Menschen, die aus schwierigen, traumatisierenden Verhältnissen stammen – die als Kinder geschlagen und missbraucht oder stark mit Armut oder Krankheit konfrontiert wurden. Eine überstrenge Erziehung, wie sie früher nicht selten vorkam, gehört in dieselbe Ecke.  Erst die frühe Schwächung der seelischen Struktur bewirkt, dass aus einem „Zwangscharakter“ eine „Zwangsstörung“ wird, unter der die Betroffenen selber leiden.

Menschen mit solchen Erfahrungen sind zutiefst verunsichert über sich selbst, und es wird nicht viel helfen, wenn die Therapeutin dem Patienten freundlich erklärt, er sei doch durchaus sympathisch. Zu billig. Sie kennt ihn ja noch gar nicht. Manchmal findet sie ihn auf Anhieb nicht einmal sonderlich nett, eben weil Menschen mit dieser Störung nicht immer die einfachsten Typen sind. Patient und Therapeutin müssen sich aufeinander einlassen, die Therapeutin muss die Persönlichkeitsanteile und Erfahrungen aufspüren, die wirkliche Sympathie erwecken. Andererseits darf sie für die schwierigen Seiten und Angewohnheiten des Patienten nicht blind sein. Es gehört viel Durchhaltevermögen von beiden Beteiligten dazu, um Frustrationen, Ängste  und Ärger, die eine Zwangsbehandlung unausweichlich begleiten, gemeinsam zu überstehen. Ist das Vertrauen aber erst einmal gewachsen, können neue Strategien erprobt und ungünstige Verhaltensweisen allmählich verlassen werden. Um den anfangs hohen seelischen Druck rasch zu mindern, ist eine spezifische psychiatrische Medikation begleitend sinnvoll.

Bei jeder Psychotherapie von Zwängen wird es am Ende auch darum gehen, tiefsitzende, jedoch unerfüllbare Sehnsüchte aufzugeben, an denen diese Menschen bisher mit verzweifelter Zähigkeit festgehalten haben. Ob es sich um Sexualität oder Aggression handelt, ob um Kontrollwünsche – alles kann in der Therapie in Worte gefasst werden, ist menschlich und zunächst nicht beschämend, aber dennoch kaum in vollem Umfang zu verwirklichen. Wir können dem Patienten dazu verhelfen, seine Liebesbedürfnisse oder aggressiven Anwandlungen angemessener auszuleben, so dass er sich nicht selbst ins Abseits manövriert und die Dinge komplizierter macht, als sie sein müssten. Wir können allerdings keine uralten kindlichen Bedürfnisse nach Geborgenheit oder Allmacht stillen, denn für einen Erwachsenen gibt es so etwas in unserer Welt nicht. Die Therapie setzt darauf, dass der Patient, indem er in Kontakt und Konflikt kompetenter wird, von seinen infantilen Wünschen, die ihn so viel Kraft kosten, allmählich loskommt, weil die Gegenwart ihm mehr Erfolge zu bieten hat. Die alte Hoffnung auf das große Glück kann nur dann abgelegt werden, wenn das neue Leben eigene Glücksmomente bereithält. Da Zwangspatienten meist dann in Therapie kommen, wenn sich ihr Leben so richtig schön in jede Richtung verfahren hat, kann man sich auf ein ganzes Stück Arbeit einstellen, ehe man auch nur das schlimmste äußere Schlamassel beseitigt hat. Die inneren Probleme, sprich die Symptome, werden naturgemäß erst anschließend besser, denn kein Mensch kann sich wirklich beruhigen, wenn die Beziehung oder der Beruf auf der Kippe stehen (um nur mal zwei Hauptprobleme zu nennen). Zwangspatienten meinen zwar, sie könnten es, indem sie eine Willensanstrengung machen, aber das einzige, was sie sich damit einhandeln, sind Darm- oder Blasenstörungen, Kopf- oder Rückenschmerzen. Die Situation muss sich beruhigen, ehe der überreizte Patient es selber schafft. Die vier Säulen, auf denen die tiefenpsychologische Zwangsbehandlung ruht, sind also:

  1. Scham und Ängste überwinden, indem der Patient mehr Vertrauen zu sich und seinem Gegenüber findet und die große Bandbreite menschlicher Seelenregungen bewusster erfasst.
  2. Störende Verhaltensweisen erkennen und unterlassen. Hier muss die Therapeutin wenn nötig die Erste sein, die dem Patienten taktvoll widerspiegelt, wie er rüberkommt (taktlos oder total entnervt haben es schon andere getan). Angemessene Verhaltensweisen einüben. Akute Konflikte und Schwierigkeiten soweit möglich ausräumen.
  3. Gute Momente und Erfolge der Gegenwart aufmerksam wahrnehmen, um Abstand von alten, unerfüllbaren Sehnsüchten zu finden.
  4. Geduld und Hoffnung bewahren, auch wenn die Dinge nur langsam vorankommen. Immer vor Augen behalten, dass die große Willens- und Empfindungsstärke, die jetzt das Loslassen erschwert, eines Tages auf geeigneteren Gebieten noch viel Gutes bewirken kann.