Vor den Mut haben die Götter die Angst gestellt. Nur, wer die Angst kennt, kann zur Tugend des Mutes heranreifen. In der Psychotherapie ist von vielen Ängsten die Rede. Manche Patienten neigen zu Panikattacken, deren Ursachen sie sich selbst nicht erklären können. Andere fürchten beständig, an einer schweren Krankheit zu leiden, und schenken den Beschwichtigungen ihrer Ärzte keinen Glauben. Wieder andere würden nie wagen, ein Flugzeug, eine Brücke, einen Aufzug zu betreten oder fallen beim Anblick einer Spinne fast in Ohnmacht.

Solche Probleme können die Lebensqualität stark mindern. Darüber hinaus gibt es natürlich Ängste, die ganz real und oft genug unausweichlich sind: Wir alle fürchten, dass uns wichtige Erfolge in der Liebe oder im Beruf versagt bleiben könnten. Wir werden nicht gern verletzt, mögen unsere Schwächen nicht bloßstellen, keine schlimmen Fehler machen, nicht die Verlierer sein. Wir wissen um unsere Sterblichkeit und fürchten den Tod umso mehr, je weniger wir unsere Chancen im Leben nutzen konnten. Wovon hängt es nun ab, ob wir eher ängstlich oder mutig sind?

  1. Von unseren Vorbildern: Wer Eltern mit Unternehmergeist hatte, wird sich selbst in unbekannte Situationen hineinwagen. Wenn die Eltern dagegen ständig Angst um Familie und Besitz hatten, werden auch die Kinder eher den heimischen Herd hüten, als auf Entdeckungsreisen zu gehen.
  2. Von den eigenen Erfahrungen. Wer das Glück hatte, von bösen Erlebnissen wie Krankheit, Armut, Vernachlässigung verschont zu bleiben, der schenkt der Welt mehr Vertrauen und schätzt die Risiken geringer ein als ein Mensch, der wuchtige Schicksalsschläge am eigenen Leib kennen lernen musste.
  3. Vom Angsthormonstoffwechsel im Gehirn. Es gibt Menschen, die von Geburt an stärker mit Ängsten belastet sind als andere. Sie fallen schon als Kinder durch ihre Schüchternheit auf. Ihre Psyche reagiert auf angstauslösende Reize zu heftig. Diese Veranlagung tritt nicht selten familiär gehäuft auf.
  4. Von den Gelegenheiten, die wir haben, um unsere Fähigkeiten zu erproben und zu trainieren. Auch hier werden ängstliche Eltern ihre Kinder eher bremsen. Umgekehrt gibt es Eltern, die zu viel fordern, so dass die Kinder an ihren Aufgaben verzagen.

So könnte man also auf den ersten Blick meinen, dass Ängstlichkeit Schicksal sei. Wer kann sich schon seine Eltern oder sein Gehirn aussuchen? Wie soll man nun mit der scheußlichen Ängstlichkeit umgehen? Manche Leute nehmen gewisse Mittel ein, die die Angstreaktion drosseln, wobei man hier nicht an das Falsche geraten darf. Es gibt Menschen, die betäuben ihre Angst mit Alkohol – keine gute Idee. Dann im Ernstfall lieber ein Medikament; natürlich nur nach eingehender ärztlicher Beratung. Aber eine Dauerlösung ist das auch nicht. Wer seine Angst auf Dauer loswerden will, hat nur eine Möglichkeit: Er muss mutiger werden!

Leider läuft es im echten Leben meist anders. Die Leute werden mit der Zeit immer ängstlicher. Ein paar Beispiele:

  1. Man geht nicht mehr ins Kino, weil man nicht gern unter so vielen Menschen ist, und bald auch nicht mehr ins Restaurant.
  2. Man fährt nicht mehr in Urlaub, weil es Straßen ohne Brücken leider kaum gibt.
  3. Man findet sich mit einem zweitklassigen Beruf ab, weil man vom Lernen Kopfweh bekommt und vom Kopfweh Panikattacken und dann das Lernen lieber sein lässt.
  4. Man gibt sich mit einer mittelmäßigen Position zufrieden, weil man schon beim Gedanken an ein Bewerbungsgespräch in Schweiß gerät.
  5. Man bleibt allein, weil es schier unmöglich scheint, einen Menschen – gar des anderen Geschlechts – auch nur anzulächeln.
  6. Man versteckt sich mit seinen Bildern, Liedern, Fähigkeiten jeder Art daheim, weil man den Blicken der Welt nicht standzuhalten glaubt.
  7. Man redet mit niemandem mehr, weil man sich für seine Ängstlichkeit schämt.

Im Gedanken an die Konflikte, die jederzeit überall, wo das Leben pulsiert, entstehen können, hält man sich im Verborgenen, schon um keinen stressbedingten Herzinfarkt zu kriegen.

Am Ende kann man gar nichts mehr genießen, weil man ständig Angst vor der Angst hat.

Soweit sollte es nicht kommen. Stimmt: Wer zu Ängsten neigt, der würde sich am liebsten immer im sicheren Versteck aufhalten. Das Problem ist nur, dass es auf dieser Erde kein sicheres Versteck gibt. Jedes Versteck wird mit der Zeit zum Kerker. Zwar entrinnen wir den äußeren Gefahren. Uns droht aber ein anderes Verhängnis: Das des ungenutzten Lebens. Und deshalb werden auch die Menschen, die längst gewohnt sind, allen Herausforderungen auszuweichen, keineswegs ruhiger, sondern immer unglücklicher, obwohl sie oft nicht wissen, warum. Der Grund ist, dass sie ihr kostbares Leben verschwenden. Als Vergleich: Stellen Sie sich vor, Sie hätten einen Koffer voll Geld und würden ihn zum Schutz vor Dieben vergraben. Als Sie zehn Jahre später nachschauen, müssen Sie feststellen, dass Feuchtigkeit eingedrungen ist und all die schönen Scheine verrottet sind. Was würden Sie da für Augen machen? Hätten Sie das Geld nicht lieber sinnvoll verwendet? Genauso ist es mit ungenutzten Chancen und Fähigkeiten. Jeder einzelne Tag ist unwiederbringlich. Jeder Körper altert, ob man will oder nicht. Nutzen Sie Ihre Existenz, so lange Sie sie haben. Werden Sie mutiger!

Und wie macht man das? Indem man Risiken eingeht und feststellt, dass es oft genug nicht schief geht, sondern klappt. Tollkühne Heldentaten sind gar nicht nötig. Sie sollen auch keine Gesetze brechen oder mit zweihundert über die Autobahn rasen. Stattdessen könnten Sie:

  1. Mit Ihrem Gegenüber im Bus ein Gespräch anknüpfen (mögliche Steigerung: von unscheinbaren zu attraktiven Leuten).
  2. Etwas Ungewohntes zum Anziehen kaufen (von preiswert bis teuer).
  3. Die eigene Meinung mitteilen (vom Familienkreis bis zum Vorgesetzten).
  4. Einen Witz erzählen (von brav bis gewagt).
  5. Etwas Neues lernen (von Kleinigkeiten wie „mit Stäbchen essen“ bis zum Chinesischkurs).
  6. Sachen im Alleingang machen (vom Weg zur Arbeit bis zum Urlaub).
  7. Sachen mit andern zusammen machen (wie oben).
  8. Etwas reklamieren oder umtauschen (Tchibo bis Nobelrestaurant).
  9. Etwas Sportliches ausprobieren (Tanzen, Skifahren, Dreimeterbrett).
  10. Die Augen offenhalten, schauen, was andere so mit ihrem Leben anstellen, und Anregungen aufgreifen.

Hängen Sie sich rein. Überwinden Sie sich, Sie werden mit Erfolgserlebnissen belohnt. Es wird auch einiges missglücken, so ist es immer, aber das bringt Sie nicht um. Bedenken Sie: Sie können sich mit Ihrer Angst verstecken. Oder Sie können mit Ihrer Angst etwas unternehmen. Was ist wohl am Ende befriedigender?