Seit Jahrtausenden sind wir bemüht, aus unseren nächtlichen Träumen etwas herauszulesen. Können wir im Schlaf in die Zukunft sehen oder die verborgenen Beweggründe anderer Menschen enträtseln?

Die Wahrheit ist, dass Träume immer mit ihrem Träumer zu tun haben, also mit uns selbst. Trotzdem mögen sie eine Botschaft enthalten, die uns zuvor unbekannt war. Denn nicht alles, was in unserer Seele lebt, ist uns bewusst. Wir empfangen viele Eindrücke. Die meisten vergessen wir, manche bleiben im Bewusstsein haften, und wieder andere gleiten ins Unterbewusstsein ab. Man könnte das Unterbewusste mit einem Keller vergleichen, in dem allerlei herumsteht. Zuweilen fehlt uns einfach die Kraft, unsern Sperrmüll zügig zu beseitigen. Ähnlich geht es der Seele: Manches psychische Gerümpel ist uralt und belastend, zugleich jedoch so schwergewichtig, dass es nicht gelingen will, das Zeug endgültig zu entsorgen, sprich zu vergessen. Es liegt dann im Unbewussten, verdrängt, verleugnet oder anders aus dem Bewusstsein gedrängt, aber platzraubend.

Außerdem hat man im Keller Sachen, von denen man sich noch nicht trennen will, die oben jedoch stören würden, und schließlich bewahrt manch einer in den dunklen Gelassen seines Seelenhauses auch gerade die Dinge auf, die ihm besonders wichtig sind, die er aber aus gewissen Gründen meint verstecken zu müssen – sogar vor sich selbst. Oft sind das Sehnsüchte nach Liebe oder persönlicher Größe, die uns unstatthaft erscheinen und deshalb unbewusst bleiben müssen. Oder aber Ängste, die wir so gut es geht von uns fernhalten, um nicht den „klaren Kopf“ zu verlieren.

Es ist schon merkwürdig, dass wir so viel in uns aufbewahren, von dem wir selbst nichts wissen. Es gibt eine sogenannte psychische „Abwehr“, die dafür sorgt, dass unser Bewusstsein von den „Kellergeistern“ verschont bleibt. Diese Abwehr ist ebenfalls ein unbewusster Prozess. Wie unsere inneren Organe die Nährstoffe und Gifte, die unser Körper aufnimmt, immerzu an die rechte Stelle zu bringen suchen, also verwenden, lagern oder ausscheiden, ohne dass wir dies spüren oder gar steuern, verarbeitet auch die Seele alle eingehenden Eindrücke weitgehend ohne unser bewusstes Zutun. Wir merken nicht, wie sich unser Unbewusstes mit Inhalten füllt. Wir wüssten nicht einmal, dass wir ein Unbewusstes haben, wenn wir nicht von andern Leuten beobachtet würden, denen auffällt, dass in uns noch andere Kräfte wirken müssen, als die, über die wir selber Auskunft geben können. Denn das Unbewusste ist eben unbewusst. Das heißt nicht, dass es wirkungslos ist. Wie merkwürdig, dass wir einen reichen Mann oft attraktiver finden als einen armen, obwohl wir ehrlich beteuern, dass es uns in der Liebe auf mehr ankommt als nur aufs Geld. Die andern schmunzeln dann und wissen: Das Interesse am Materiellen ist sehr wohl da, nur eben unbewusst.

Über die tieferen, also unbewussten Motive unseres Handelns wurde schon von vielen Philosophen, Künstlern und Seelsorgern nachgedacht. Ohne fremde Hilfe wird am ehesten einen Blick in sein Unbewusstes werfen, wer seine Träume deuten lernt. Träume rühren daher, dass unsere seelische Abwehr im Schlaf anders arbeitet als im Wachen. Im Wachen kann sie uns vom andrängenden Unbewussten ablenken, indem sie unsere Aufmerksamkeit auf immer neue äußere Dinge richtet. Im Schlaf sind bekanntlich die Augen geschlossen, deshalb geht das nicht. Doch was an Gefühlen, Wünschen und Beobachtungen im Unbewussten rumort, will sich immerzu bemerkbar machen. Nun hat die Analogie mit dem Keller ihr Ende. Denn während ein Stuhl im Keller seine Gestalt behält und einfach so, wie er war, oben wieder auftauchen würde, sind die Inhalte des Unbewussten gleichsam unkörperlich. Sie müssen erst neu Gestalt annehmen, um in unsere Wahrnehmung vorzudringen.

Diese Unkörperlichkeit bewirkt nun das Bizarre der Träume. Stellen wir uns vor, dass der Tag in uns eine Beunruhigung hinterlassen hat, die von unserer wachen Abwehr noch wirksam verdrängt worden ist, im Schlaf aber nicht mehr gezähmt werden kann. Da will die Angst nun aufsteigen, während Vernunft und Wirklichkeitssinn schlafen. Welche Gestalt wird sie annehmen, wenn unsere erwachsene Gedankenarbeit nicht zur Verfügung steht, um ihr eine realistische Form zu verleihen? Sie wird sich in Bilder und Erlebnisse unseres Erfahrungsschatzes kleiden, die zu dem zu verkörpernden Gehalt passen. Zugleich wirkt auch im Traum noch ein Teil der psychischen Abwehr, die weiterhin bemüht ist, Ängste und Sehnsüchte, so gut es geht, unkenntlich zu machen – die Kleidung wird zur Ver-kleidung. Ist die Abwehr der Angst unterlegen, entsteht ein Alptraum. Häufig kann unsere Abwehr den zugrundeliegenden Affekt nicht völlig bannen, aber soweit verfremden, dass wir zwar ein Unbehagen spüren, doch nicht mehr vor Angst keuchen.

Wenn wir über unsere Träume nachdenken, müssen wir also wissen, dass  die geschauten Bilder symbolisch zu verstehen sind.  Auch die Personen, von denen wir träumen, sind nie einfach „sie selbst“. Im konkretesten Fall erscheinen sie so, wie wir sie sehen – das heißt, ihr Handeln entspricht vielleicht mehr unsern Zuschreibungen als ihrem wirklichen Charakter. __Oft haben aber auch Personen einen symbolischen Gehalt und repräsentieren einen Teil unserer eigenen Befindlichkeit. Wie ist das zu verstehen? Ein paar Beispiele:

 

  1. Im Volksmund sagt man: Wenn man von Kindern oder gar Babys träumt, verheißt dies Unglück. Da könnte etwas Wahres dran  sein, besonders wenn das Kind im Traum in Gefahr ist und gerettet werden muss. Denn das Traumkind  – sogar wenn es eines ist, das wir in Wirklichkeit kennen – symbolisiert wahrscheinlich unsern eigenen kindlichen Anteil, also eine Seite in uns, die gerade recht verzagt ist. Solche Träume tauchen auf, wenn wir uns – bewusst oder unbewusst – in einer beängstigenden Situation fühlen und darauf hoffen, von einer höheren Macht gerettet zu werden so wie früher von den Eltern. Da wir meist nicht ganz zu Unrecht beunruhigt sind, gehen Träume von Kindern tatsächlich oft mit problematischen Liebenssituationen einher. Fragen Sie sich, wovor Sie Angst haben, und überlegen Sie, ob Sie etwas Sinnvolles unternehmen können.
  2. Träume von vergangenen Prüfungen sind häufig. Im Traum muss man plötzlich wieder Abitur machen oder Matheaufgaben lösen, die man früher beherrschte, jetzt aber ziemlich schwierig findet. Der Symbolgehalt liegt auf der Hand: Das Leben hält viele Prüfungen bereit. Sigmund Freud hat darauf hingewiesen, dass wir meist von Prüfungen träumen, die wir in Wahrheit erfolgreich bestanden haben. Er deutete dies so, dass der Traum uns Mut machen soll: „So wie damals wirst du auch diesmal die Hürde nehmen.“ Die unbehagliche Gegenwart ist aber durchaus spürbar, oft als Zeitdruck im Traum, der die Befürchtung ausdrückt, dass wir unsere aktuelle Aufgabe vielleicht nicht rechtzeitig lösen.
  3. Viele Menschen fahren im Traum Zug oder Bus und erleben, wie sie aussteigen müssen, während andere noch weiterfahren. Manchmal haben sie dann Angst, dass sie falsch ausgestiegen sind, oder sie fühlen sich plötzlich einsam. Solch ein Traum symbolisiert die Todesangst, die im Menschenleben immer wieder einmal aufflackert, selbst wenn man sich bester Gesundheit erfreut. Es liegt vielmehr eine seelische Sorge zugrunde. Vielleicht wissen Sie, was Sie beunruhigt hat? Am besten tun Sie sich am Tag nach solch einem Traum etwas Gutes.   Manche Menschen rennen im Traum zur Haltestelle und haben Angst, sie könnten die Bahn verpassen – ein Symbol für unsere Angst, unsere Lebensziele zu verpassen.
  4. Die Liebe und vor allem die körperliche Hingabe bewegen uns stark im Traum. Nicht selten träumen wir von einem geliebten Menschen, doch projizieren wir auch hier eigene Strebungen in die Figur unseres Gegenübers – oft die von uns weniger gelebten. Denn gerade in der Liebe sind wir nicht immer einig mit uns selbst. Der Sehnsucht nach Nähe steht die Angst vor Nähe gegenüber. Ein Mensch, der mit seinen Liebesgefühlen sehr vorsichtig umgeht, träumt vielleicht, dass seine Geliebte ihm klare Angebote macht – er projiziert in sie die eigenen verdrängten Verschmelzungswünsche. Ein Mensch wiederum, der sich im Traum von seiner Geliebten abgelehnt fühlt, spürt hier wohl deutlicher als im Wachen seine Bedürfnisse nach Distanz. Unsere geträumten Liebespartner erzählen uns weniger von ihrem zukünftigem Verhalten als von unsern eigenen verborgenen Ambivalenzen. Ambivalenzen sind häufig unbewusst. Wir wissen nur von der einen Seite, während die andere verdrängt wird. Auf diese Weise bleibt unsere Handlungsfähigkeit erhalten, aber in unserm Inneren geht der Kampf der unterschiedlichen Parteien lange weiter.
  5. Nicht immer träumen wir so eindeutig von der Liebe, nämlich dann nicht, wenn das ganze Liebesbegehren gefährlich und tabubesetzt erscheint. Vielfältig sind die Symbole, hinter denen sich unsere sexuellen Fantasien im Traum verbergen. Für den männlichen Phallus können zum Beispiel Gurke, Kugelschreiber, Springbrunnen, Schlange, Schlüssel stehen; für die weibliche Scheide Schloss, Tasche, Gefäß, Torte, Blume. Nicht selten zeigen sich solche Symbole verbotener Liebe in einem Traum, der wie in düsteres Licht getaucht wirkt und gewisse Todeszeichen enthält, zum Beispiel vergilbte Betten, dunkle Wohnungen, einsame Landschaften. Denn eine heftig empfundene, aber verbotene Liebe scheint uns schrecklich bedrohlich, und wir erwarten fast, daran zu sterben – entweder am Verzicht oder an der Erfüllung. Dann sollten wir uns nach dem Erwachen daran erinnern, dass es in Wahrheit doch nicht so rasant bergab geht (wir leben glücklicherweise in einer liberalen Gesellschaft).
  6. Auch ein Chef spukt gern im Traum herum und behandelt uns schlecht. Doch selbst der Chef ist nur ein Symbol. Wer sich im Traum beschimpfen lässt, hat meist ein strenges Gewissen in sich, das im Traum die Gestalt des Chefs oder einer anderen Autoritätsperson annimmt und die Knute schwingt. Vielleicht können Sie sich am Morgen mal sagen, dass Sie gar keine so üble Person sind. Denn auch der echte Chef hat nur dann soviel Macht über uns, wenn wir im tiefsten Innern bereit sind, uns selbst zu verdammen.
  7. Ein Telefon taucht in Träumen oft auf, um Kontakt mit dem Jenseits aufzunehmen - mit den Verstorbenen, die aber wiederum vielleicht nur als Platzhalter für die entsprechenden eigenen Anteile dienen, oder mit andern “jenseitigen” Inhalten, also dem eigenen Unbewussten.

Träume sind spannend, eine Welt für sich. Manche sind überfrachtet mit den unterschiedlichsten Botschaften bis hin zur totalen Konfusion. Auch lassen sich nicht alle Symbole einfach entschlüsseln, die häufigen Deutungen helfen nicht immer weiter. Alle Träume sind, wenn überhaupt, nur sinnvoll zu deuten, falls der Träumer in sich selbst hineinzuschauen versteht. Probieren Sie es aus. Schenken Sie Ihren Träumen Beachtung, vor allem den dahinter liegenden Gefühlen.