Wir haben jetzt gesehen, wie Ängste den Charakter prägen können. Zur Erinnerung: Die beschriebenen Charakterzüge bilden sich aus, um eben nicht zu viel Angst spüren zu müssen. Stattdessen gewöhnt man sich Denk- und Verhaltensweisen an, die sich beruhigend auswirken, selbst wenn sie andern Menschen schrullig erscheinen mögen. Das funktioniert bis zu einem gewissen Grad. Der Erfolg hängt allerdings davon ab, mit welchen Herausforderungen das Leben den Menschen konfrontiert, mit welchen Frustrationen und Schwierigkeiten. Denn natürlich kann man selbst bei sehr ausgedehnten Kontroll- oder Vermeidungsstrategien nicht viele Jahrzehnte lang alle Probleme abwenden. Ganz abgesehen von wirklichen „Schicksalsschlägen“, die zwar nicht die Regel, aber auch nicht gerade selten sind, gibt es Lebenshürden, an denen niemand vorbeikommt, und die unter Umständen schon reichlich Angst erzeugen. Unser Wohlbefinden hängt zudem davon ab, wie intakt die Menschen in unserem nächsten Umfeld sind.

Beispiele für schwierige Lebenssituationen:

Man sieht, es gibt viele Stolperfallen auf dem Lebensweg. Manchmal fürchten wir uns weit im Voraus. Allein die Vorstellung, dass eine Trennung nötig werden oder das Geld nicht reichen könnte, versetzt manche Menschen in Unruhe, vor allem dann, wenn sie selbst aktiv werden müssten, um ihre Situation zu meistern. Schwierige Lagen erfordern schwierige Maßnahmen, von denen man sich vielleicht schon bei der ersten gedanklichen Kontaktaufnahme überfordert fühlt.

Und wenn schlimme Dinge wirklich eingetreten sind, bringen sie meist nicht nur „äußerliche“ Einbußen von Geld, Liebe oder Prestige mit sich. Es droht auch ein gravierender „innerer“ Absturz des Selbstwerts. Viele Menschen, die ihren Job, ihren Partner oder ihre körperliche Gesundheit verloren haben, fühlen sich bewusst oder unbewusst stark entwertet. In der Folge schwinden Selbstbewusstsein, Mut und Zuversicht. Es ist also kein Wunder, dass solche Ereignisse latente Ängste aktivieren, insbesondere bei Personen, die ohnehin zu erhöhter Angstbereitschaft neigen (siehe: „Entstehung von Angst“).

In der Literatur findet man häufig noch die Vermutung, dass Angst vor allem auf einen erhöhten Andrang tabuisierter sexueller oder aggressiver Impulse zurückzuführen sei. Was die Aggression angeht, stimmt es natürlich, dass belastende Erlebnisse neben der Frustration häufig Wut erzeugen, die ein subjektiv unzulässiges oder bedrohliches Ausmaß annehmen kann, so dass sie abgewehrt werden muss. Was sexuelle Impulse angeht, die Auslöser der klassischen „Triebkonflikte“, so scheinen diese aufgrund unserer liberaleren Vorstellungen in Deutschland seltener geworden zu sein. Insbesondere dürfen auch Frauen zu ihren sexuellen Wünschen stehen. Es scheint angesichts der Fülle entsprechender Publikationen sogar ein großes, beinah voyeuristisch-exhibitionistisches Bedürfnis zu bestehen, die weibliche Sexualität mit all ihren Begierden und Fantasien auf großer Bühne auszuleuchten. Vielleicht Nachholbedarf. Jedenfalls sind sexuelle Hemmungen und die daher rührenden seelischen Erkrankungen seltener geworden. Neben der Überlegung, dass sich hinter der Angst ein anderes Gefühl verbergen könnte, scheint mir daher vor allem die Erkenntnis wichtig, dass Angst in den meisten Fällen eben nichts anderes ist als: Verlustangst, Versagensangst, Existenzangst.

Die mit Angst einhergehenden Krankheitsbilder gestalten sich unterschiedlich.

Generalisierte Angststörung

Diese Störung ist durch einen erheblichen und dauerhaften Anstieg des Angstniveaus gekennzeichnet. Die Patienten zeigen Vermeidungsverhalten, das nicht mehr im Spektrum normaler Charaktervariationen angesiedelt werden kann, sondern krankhaft ist. Als krankhaft bezeichnet man in der Psychiatrie Denk- und Verhaltensweisen, die eine zweckdienliche Lebensweise unmöglich machen. In diesem Fall wären das folgende Symptome: Die Betroffenen verlassen nicht mehr das Haus, manchmal nicht mehr das Zimmer oder das Bett. Sie führen keine Gespräche mehr, wagen nicht, die Post zu öffnen, zu telefonieren oder eine Entscheidung zu treffen. In milderen Fällen sind sie noch handlungsfähig, solange sie einen Begleiter haben (Eltern, Partner), verfallen aber in Angst, sobald sie allein sind – selbst im eigenen Haus. Aus diesem Grund suchen die Patienten mit großem Nachdruck, teils gar mit Tobsuchtsanfällen, zu verhindern, dass ihre Angehörigen sie auch nur stundenweise verlassen. Das Vermeidungsverhalten wird exzessiv und vermag trotzdem nicht mehr, Angstgefühle fern zu halten, so dass die Betroffenen schwere Qualen ausstehen.

Öfter als bei den anderen Angststörungen nimmt diese Krankheit einen schleichenden Anfang. Die Betroffenen drosseln zwar ihre sozialen Aktivitäten oder nehmen berufliche Entwicklungsmöglichkeiten nicht wahr, erklären aber sich und andern, dass das schon seine Ordnung habe („will mal meine Ruhe“, – „brauche nicht so viel Geld“). Solch ein Verhalten führt allmählich ins Abseits, wodurch die Betroffenen ihre latent schwierige Situation noch verschlechtern: Hat man sich erst eine Weile versteckt, geht der Glaube an vorhandene Kompetenzen natürlich immer mehr verloren. Nicht nur beim Betroffenen selbst, sondern auch im Umfeld. So kommt es am Ende vielleicht wirklich zu Ereignissen wie Kündigung oder Partnerverlust, die zunächst nur als Fantasie existierten.

Zuweilen bildet sich bei Menschen, die zuvor nicht durch Ängstlichkeit, sondern eher durch riskante Beschäftigungen (zum Beispiel beruflich oder sportlich) aufgefallen sind, eine Angststörung aus. Hier ist zu vermuten, dass sie auf kontraphobische Weise, also mit der sogenannten „Flucht nach vorn“ latente Ängstlichkeit zu überwinden versucht haben, diesen Modus aber auf Dauer nicht durchhalten konnten (siehe auch: Angst-Charaktere Teil 2).

Panikstörung und Phobien

Panikstörung und Phobien unterscheiden sich von der Angststörung darin, dass zunächst keine konstante Angststimmung besteht. Stattdessen führen im Falle einer Phobie bestimmte Belastungssituationen eine Panikattacke herbei. Häufige Auslöser sind Menschenmengen, Aufenthalt in geschlossenen Räumen, Flüge, Auftritte vor Publikum oder bei Jugendlichen der Schulbesuch. Unter einer Panikattacke versteht man den plötzlichen extremen Anstieg von Angst. Die Attacke ist oft nur wenige Sekunden lang, kann aber auch bis zu einer Stunde dauern. Nicht alle Patienten erleben die Panik als „nackte Angst“, manche vermuten eher einen Herzinfarkt – so sehr, dass sie viele EKGs brauchen, bis sie endlich glauben, dass sie nicht herz-, sondern panikkrank sind. Bei manchen Betroffenen scheint sich der Anfall ganz ohne ersichtlichen Grund einzustellen. In jedem Fall ist eine Panikattacke ein scheußliches Ereignis, dass die Betroffenen mit Todesangst erfüllt, sich wie Folter anfühlt und große Ratlosigkeit, sowie „Angst vor der Angst“ hinterlässt. Wenn die Panikattacken ohne bewusst fassbaren Auslöser auftreten, spricht man von einer Panikstörung.

Die Angst vor der Angst kann sich zur chronischen Belastung auswachsen und zu Gehemmtheit und Vermeidung führen. Patienten setzen sich im Kino nur noch an den Rand oder gehen gar nicht mehr hin. Flugreisen sind gestrichen, obwohl hier weniger passiert als bei jeder andern Fortbewegungsart. Kinder weigern sich monatelang, zur Schule zu gehen. Für Außenstehende ist es unbegreiflich, woher die ganze Angst kommt, und es steckt tatsächlich viel unbewusstes Material in der Seele, das sich an dieser Stelle bemerkbar macht und mehr Belang hat, als die vermeintlich so schreckliche äußere Situation.

Man könnte fragen, warum die Betroffenen selbst durchaus nicht merken, wovor sie sich in Wirklichkeit fürchten? In der Regel hat dies damit zu tun, dass die Erkenntnis der wahren Angstursachen allzu beschämend oder entmutigend wäre. Stattdessen wird versucht, die Panik wegzukriegen, indem die Auslöser gemieden werden. Doch auch diese Krankheit wird eher schlechter, wenn die zugrundeliegende Problematik nicht bearbeitet wird.

Manche Menschen entwickeln eine Panikstörung, weil sie beruflich mit Herausforderungen zu tun haben, die das Nervenkostüm wirklich ziemlich strapazieren – Feuerwehrleute zum Beispiel, aber auch Polizisten, Ärzte und Lehrer, um nur einige zu nennen. Möglich, dass dann die äußeren Anforderungen gesenkt werden müssen. Oft kommt aber ein unbewusster Anteil hinzu, der mit dem Selbstwert, dem Leistungswillen oder privaten Beziehungskonflikten zu tun hat und häufig sogar stärker wirkt als der berufliche Faktor. Wenn dies nicht genügend erkannt und behandelt wird, kommt es trotz Entlastung zur Verschlechterung.

Es gibt auch „harmlose“ Phobien, wie die Angst vor Spinnen, Spritzen oder dem Zahnarzt, die sich seltener, eben nur in der sehr speziellen Situation bemerkbar machen. Trotzdem sind die unbewussten Ursachen oft nicht von Pappe, sondern hängen mit lang zurückliegenden Verletzungen zusammen, die Reste alter Angst hinterlassen haben. In der Literatur geht man davon aus, dass Angst in einer Phobie gleichsam gebündelt wird und, statt breitflächig aufzutreten, nur in gewissen Momenten zum Vorschein kommt (sogenannte Verschiebung auf einen vermeidbaren Reiz). Diese Umlenkungstechnik funktioniert aber auch nur solange, wie das phobische Objekt hinreichend Angst „aufnehmen“ kann: Eine Spinne trifft man nicht oft genug, um sich abzureagieren, falls mit komplizierter werdenden Lebensumständen das Angstniveau steigt. Dann können sich Phobien ausweiten bis hin zur generalisierten Angststörung.

Das Miese an der Angst ist: Man kann sich vor ihr nicht verstecken. Denn selbst falls man gar nicht mehr das Haus verlässt, wächst die Angst heimlich weiter. Es ist für einen Menschen nämlich furchtbar, wenn er gleichsam in Gefangenschaft lebt – wie viel kostbare Lebenszeit verstreicht ungenutzt, wie viele zunächst noch vorhandene Fähigkeiten und Chancen gehen verloren. Die Betroffenen spüren das, selbst wenn sie es nicht wahrhaben wollen, und deshalb wird die Krankheit trotz Vermeidung schlimmer -  ein Teufelskreis.

Therapiemöglichkeiten

Es geht immer darum, den Teufelskreis der Vermeidung zu durchbrechen. Bei begrenzten Phobien wird man den Patienten motivieren, die gefürchtete Situation in kleinen Schritten zu bewältigen, Entspannungstechniken zu erlernen, die Wahrnehmung von Erfolgen zu vertiefen. Bei Schulphobien bestärkt man Eltern darin, das Kind unter allen Umständen in die Schule zu verfrachten, Gebrüll hin oder her. Geht nämlich erst der Anschluss verloren, gerät die ganze Schullaufbahn in Gefahr, die doch für den weiteren Lebenserfolg elementar ist. Freilich soll das Kind trotzdem therapeutische Hilfe bekommen, damit tiefere Ängste erfasst und ausgeräumt werden können.

Je umfassender die Symptomatik, umso mehr durcheinander ist der Betroffene und mit ihm seine Lebenssituation. Hier muss man Missstände klar herausarbeiten und auf Abhilfe sinnen. Welche Maßnahmen notwendig und durchführbar sind, ist oft nicht leicht zu erkennen und bedarf eingehender Erörterung aller bestimmenden Faktoren. Und selbst wenn Patienten dann sehen, was sie angehen müssten, sind sie eben doch ängstlich. Hier ist einerseits wieder Motivierungsarbeit und andererseits ein gutes Konzept nötig, wie man ohne zu große Risiken Veränderungen ins Werk setzen kann. Nicht selten sind Veränderungen anfangs nur schwer zu erzielen, weil die Patienten vom Nutzen eigentlich nicht überzeugt sind oder im entscheidenden Moment und zu ihrem eigenen Verdruss immer stecken bleiben. Dann gilt es zu ergründen, ob unbewusste Inhalte den Prozess blockieren. Die Erhellung und Überwindung unbewusster Widerstände ist Aufgabe der Tiefenpsychologie. Der Ausspruch vieler Patienten: „Ja, wenn erst die Symptome weg wären, könnte ich das alles hinkriegen“, ist begreiflich, verkennt aber den wahren Sachverhalt. Was würden Sie zu einem Schüler sagen, der erklärt: „Wenn ich nur eine eins in Mathe hätte, würde ich die Aufgabe leicht  schaffen“? Der Punkt ist eben: Erst kommt die Arbeit, dann der Erfolg. Genau wie der Schüler sich mit seiner Algebra herumschlägt, müssen Psychotherapiepatienten einiges auf sich nehmen, um ihre Krankheit zu überwinden. Hier geht es auch um Konfliktstärke, Frustrationstoleranz, Übewillen. Die Kunst ist freilich, nicht zu viel auf einmal zu verlangen und ein realistisches Augenmaß zu behalten. Gerade Angstpatienten, die sich nicht einmal trauen, bei einem Streit das Zimmer zu verlassen, haben oft große Ideen von Scheidung und Neubeginn – sie wissen gar nicht, was sie sich da alles vornehmen. Dasselbe gibt es bei beruflichen Problemen. Hier muss man in der Therapie die eigenen Grenzen kennen und akzeptieren lernen – nicht immer einfach.

Der persönliche Entwicklungsprozess kann durch eine begleitende symptomdämpfende Medikation erleichtert werden, die allerdings keine Dauerlösung darstellt. Hierfür ist unbedingt ärztlicher Rat nötig. Zu warnen ist vor dem unkritischen Privatgebrauch angstlösender Substanzen – ob Tranquilizer oder Alkohol -, die schwere Abhängigkeiten erzeugen können. Häufig haben Angstpatienten auch Angst vor Medikamenten, die ihnen durchaus helfen könnten. Ihnen ist ein Behandler zu wünschen, der sein Mittel so langsam aufdosiert, dass der Patient Vertrauen fassen kann.