Da vielen Betroffenen der Begriff „Dissoziation“ unbekannt ist und sie zwar die verdächtigen Vorkommnisse bemerkt haben, aber nicht vermutet hätten, dass sich dahinter eine echte Funktionsstörung verbirgt, wird zunächst Aufklärung und Beruhigung nötig sein: Dissoziation ist nichts Geisterhaftes, Mystisches, sondern letztlich ein Spannungssymptom. Wie bei den Krankheiten anderer Körperregionen gilt auch hier: Je kräftiger ein Organ grundsätzlich ist, umso mehr akute Belastung kann es ohne Funktionsverlust wegstecken. Von daher kein Wunder, dass ein komplex traumatisiertes Gehirn mit seinen neurobiologischen Wunden und Narben in Spannungsmomenten mit stärkeren Symptomen reagiert als ein strukturell gesundes Gehirn. Es kann sogar, platsch, über sich selbst stolpern. In jedem Fall bestehen therapeutische Optionen. Unserm Gehirn wohnt eine ungeheure Regenerations- und Entwicklungsfähigkeit inne, so dass wir uns von der konsequenten Anwendung antidissoziativer Techniken eine deutliche Besserung erhoffen dürfen.

Ganz gleich ob einfach zu viel „Geistesabwesenheit“ oder voll ausgeprägte dissoziative Identitätsstörung: Es geht darum, wieder umfassende Wahrnehmung herzustellen und zu üben. Man ist schon einen großen Schritt weiter, wenn man über die eigenen dissoziativen Tendenzen Bescheid weiß: Das gibt einem nämlich die Chance zu merken, wenn sich der Prozess des „Abschaltens“ vollziehen will, den man verhindern möchte. Indem man dissoziative Anwandlungen wahrnimmt, können sie sich nicht mehr so leicht einschleichen. Dissoziieren ist wie „Umknicken“: Wer wegen überdehnter Bänder ein wackeliges Fußgelenk hat, muss üben, achtsam zu gehen. Wer dissoziiert, muss üben, achtsam wahrzunehmen. Das Zauberwort lautet „Präsenz“. Die Eindrücke aller Sinnesorgane sollen verlässlich mental verarbeitet werden. Also weder innere Leere noch Autopilot noch Abdriften in mehr oder weniger angenehme Gedanken- und Gefühlswelten. Sondern „bei der Sache bleiben“. Wir wollen die ruhigen wie die kritischen Momente angemessen wahrnehmen, so dass wir einerseits dazulernen und andererseits angemessen reagieren können. Unsere aufkommenden Gefühle und Gedanken sollen uns nicht die Sicht trüben; zumindest dem Alltagsstress möchten wir uns gewachsen zeigen. Wobei Menschen, die ihre Wahrnehmung trainieren, nicht nur in der Problembewältigung besser werden: Sie nehmen auch die vielen kleinen Freuden und heiteren Momente besser wahr, die wie Marienkäfer durch unser Leben krabbeln.

Wie übt man nun Wahrnehmung? Das geht häufig ganz spielerisch. Wenn Sie Zeit haben, starten Sie beispielweise mit:

Wenn Sie sich plötzlich aufregen, also in Schreckmomenten, die Ihnen die Wahrnehmung zerschießen könnten:

Gesellschaftsspiele mit einem oder mehreren Mitspielern fordern die Präsenz noch mehr als die Stillarbeit, weil jederzeit etwas Überraschendes passieren kann. Auch hier bringt Übung einen großen Zuwachs von mentaler Fitness. Beispiele wären:

Anfangs hat man natürlich Angst zu verlieren, sich zu blamieren, die Sache zu verpfuschen. Fangen Sie trotzdem an, mit etwas Einfachem, Lustigen, und seien Sie stolz auf Ihre Übemotivation. Aller Anfang ist schwer, mit der Zeit wird es besser, ganz sicher. Und erwarten Sie keine Wunder. So wie man als kleiner Pimpf die Rechenpäckchen für die Schule geschrubbt hat, um Addieren und Subtrahieren zu lernen, so bringt man auch jetzt das Gehirn mit Geduld und Spucke zu neuer Kondition.

Bei komplexeren dissoziativen Symptomen wird man über diese grundlegenden Präsenztechniken hinaus die Wahrnehmung der unterschiedlichen gleichzeitig stattfindenden psychischen Prozesse üben, durch Reflexion Widersprüche und extreme Gefühle abzumildern versuchen und insgesamt Skills zur mentalen Selbstregulation und Selbstfürsorge vermitteln. Traumafolgesymptome können sich wandeln. Doch lassen sich alle behandeln.

Manchmal ist Dissoziation schön und erholsam: geistig schwimmen, tagträumen, abtauchen. Sie soll sich aber nicht verselbständigen und in den ungeeignetsten Momenten auftauchen, denn das kann uns große Nachteile bringen. Deshalb wollen wir aufmerksam werden für die Unaufmerksamkeit. Erstellen Sie sich ein kleines Übeprogramm. Sie werden den Erfolg bald merken.