Bei manchen dissoziativen Störungen kommt es nicht nur zum „Flackern“ des Gesamtbewusstseins in Form von Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsstörungen oder Wahrnehmungsveränderungen. Es kann sein, dass mehrere Bewusstseinszonen mit unterschiedlichen Inhalten nebeneinander entstehen, das Bewusstsein also in mehrere, nur bedingt miteinander kommunizierende Bereiche zerfällt. Man spricht dann von Selbstanteilen oder englisch Ego-States.

Ein gesundes Bewusstsein ist in sich selbst „kohärent“, das heißt, zusammenhängend. Es besteht das Gefühl eines durchgehenden Selbsts, auch wenn man sich depressiv oder ängstlich fühlt. Freilich besitzt auch der Gesunde ein sogenanntes Unterbewusstsein, von dem er, wie der Name sagt, nichts weiß, in dem aber bedeutsame Erfahrungen gespeichert sind, die sein Handeln und Fühlen mitbestimmen. Solange das Unterbewusstsein “ruhig” hält, ist es als guter Stauraum für Inhalte zu betrachten, die aktuell im Bewusttsein stören würden. Wenn sich hin und wieder ein kleiner Eindringling einschleicht und für Aufregung sorgt (“Freudscher Versprecher” etc.), ist das nicht schlimm. Manchmal freilich ist das Unbewusste so überfrachtet, dass es zum Beispiel belastende Gefühle durchlässt, während die zugehörigen Gedanken abgespalten bleiben, so dass keine Klärung und Bewältigung möglich ist. Dann kann die Störung krankheitswertig werden und - bei kohärentem Bewusstsein - eine tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie angezeigt sein.

Bei manchen dissoziativen Störungen ist die Seelenlage jedoch komplizierter, es gibt nicht einfach ein „Oben und Unten“, vielmehr ein „Nebeneinander“ von unterschiedlichen Selbstanteilen. Diese sind unter Umständen von unterschiedlichem Reifungsgrad, enthalten unterschiedliche Erinnerungen, sind emotional und kognitiv individuell aktiv. Da sie alle in einem Körper sind, der von der Umwelt als ein und derselbe Mensch erlebt wird, können sie aber nicht alle gleichzeitig ihre Eigenarten ausleben. Vielmehr wird eine Person mit solch einem Gehirn mal vom einen, mal vom andern Selbstanteil “gesteuert”, so als ob sie eine andere Identität annehmen würde, daher die Bezeichnung Dissoziative Identitätsstörung (DIS, auch “Dissoziative Persönlichkeitsstörung”). Wie weit die Fragmentierung geht, ist unterschiedlich. Manche Betroffene haben ein höheres Empfinden verbliebener Kohärenz als andere. Insgesamt besteht aber ein subjektives Empfinden vom “Viele-sein”, obwohl die Kooperation unter den Ego-States tatsächlich höher ist, als es sich für die Patient/innen wohl anfühlt.

Wie kommt es zu einer solchen Gehirnstruktur? Hierfür werden schwere Störeinwirkungen während der Hirnreifungszeit vermutet. Ein menschliches Gehirn reift während seiner ersten zwanzig bis dreißig Lebensjahre, also ziemlich lange. Traumatische Einwirkungen, die den zerebralen Aufbau beeinträchtigen können, sind nun nicht nur äußere Verletzungen oder Entzündungen, sondern auch schockhafte seelische Erfahrungen. Mit “Psyche” ist der Teil unseres Gehirn gemeint, der für die Verarbeitung unserer seelischen Eindrücke zuständig ist. Wenn dies System nun extremer Erregung unterschiedlicher Art (Wut, Angst, Sexualität, Ekel, Scham) ausgesetzt ist, wird der psychische Apparat auch extrem reagieren, nämlich mit entsprechenden Transmitterausschüttungen. Bis zu einem gewissen Grad kann die Psyche dies aushalten, sie reguliert sich dann wieder von selbst. Je jünger aber das Gehirn ist und je häufiger solch schädlichen “Psychotraumata” ausgesetzt, umso größer die Gefahr, dass bleibende Schäden entstehen, zum Beispiel im Sinne der hier vorgestellten Dissoziativen Identitätsstörung (DIS). Die Vernetzung der Hirnareale, die das “Selbst” ausmachen, ist hier nicht mehr ausreichend stabil, das Gefühl von Kohärenz geht verloren, statt dessen bilden sich “Selbstanteile”. Eine DIS lässt sich im Gehirn-Scan nachweisen. Das heißt, anders als bei den meisten andern psychischen Krankheiten, die sich rein in der Mikrobiologie des Transmitterhaushalts abspielen, geht die DIS mit makroskopisch-anatomischen Veränderungen der Gehirnstruktur einher. Das nach heutiger Vermutung exogen verursachte Störungsbild ist durch sprunghafte Änderungen des Bewusstseinszustands einschließlich teilweiser und gänzlicher Amnesien gekennzeichnet, sowie durch die Koexistenz einander zuweilen beeinträchtigender Bewusstseinsinhalte (Selbstanteile). Eine DIS stellt ein mentales Handicap dar, das Patient/innen mit antidissoziativer und psychotraumaspezifischer Therapie aber managen lernen können.

In der Therapie wird grundsätzlich geübt, dass Selbstanteile untereinander mehr in Kontakt treten - einander angstfreier wahrnehmen und dann vielleicht sogar kommunizieren lernen können.  Wie muss man sich “ein Leben mit Selbstanteilen” vorstellen? Die Betroffenen berichten zum Beispiel, dass hinter ihrem kontrollierten und an der Gegenwart orientierten Handeln gewisse seelische Instanzen in Wut, Trauer, Panik etc. verharren. Solche Anteile entwickeln sich nicht, lernen nichts dazu und üben permanent Druck aus. Dies geschieht manchmal „im Hintergrund“, das heißt, nur die Betroffenen selbst merken, dass in ihnen etwas unbeeinflussbar weint oder schimpft oder sich mit Kommentaren bemerkbar macht. Diese Kommentare fühlen sich für die Patientinnen nicht wie ein Ausfluss des „erwachsenen Bewusstseins“ an, aber auch nicht wie etwas Fremdes, von außen Gemachtes (wie es Patienten mit einer Schizophrenie empfinden würden, wobei es zwischen den Krankheitsbildern Übergänge gibt). Es bleibt aber nicht immer bei den Kommentaren aus dem Hintergrund. Manchmal “switchen” Selbstanteile “nach vorn”, wechseln sich also ab darin, wer das Verhalten der Person bestimmt, bzw. durch wessen Augen und Ohren gesehen und gehört wird (denn auch die Wahrnehmungsmuster der diversen Selbstanteile weichen vielleicht voneinander ab).

Selbstsanteile können, müssen aber keineswegs stark voneinander verschieden sein, nur werden die jeweils aktuellen Erfahrungen eben nicht automatisch geteilt. Auch existieren nicht nur panikerfüllte Selbstanteile. Manchmal gibt es Ego-States, die kindlich, jugendlich, besonders energisch oder aggressiv erscheinen, jedenfalls deutlich abweichend von der Persönlichkeit, die die Patientin als ihre „normale“ bezeichnet. Wobei dieser „normale“ Anteil im Extremfall so wenig vorstechend sein kann, dass die Betroffenen selbst nicht wissen, welche Persönlichkeit von all den vielen denn ihr „Wahres Selbst“ sein soll, besonders wenn es mehrere auf ihre Art alltagskompetente Anteile gibt. Der Begriff vom “Wahren Selbst” passt hier einfach nicht, sondern das Gesamtsystem ist das Selbst. Leider geraten die Betroffenen leicht in Spannungen, wenn sich spezielle Charakterzüge eines Anteils ausleben wollen, die im Widerspruch zu andern inneren Tendenzen stehen.  Ein Mensch mit kohärentem Selbst kennt auch Ambivalenzen. Wenn ihm diese bewusst sind, hat er aber anders als bei der DIS nicht den Eindruck, dass sich hier zwei getrennte Anteile bekämpfen. Er fühlt zu seiner Verwunderung vielmehr beides gleichzeitig in sich selbst.

In der antidissoziativen Therapie nennt man die Ego-States auch Emotionale Persönlichkeiten (EPs), während man bei dem Seelenanteil, den die Patientin als ihren „eigentlichen“ empfindet, von der Anscheinend Normalen Persönlichkeit spricht (ANP) - sofern vorhanden. Wenn Emotionale Persönlichkeiten im äußeren Verhalten sichtbar werden, also die Regie über das Verhalten übernehmen, nennt man das „switchen“, „umschalten“. Nicht selten vollzieht sich das Switchen unbewusst auf einen Außenreiz hin, der die Anscheinend Normale Persönlichkeit über ihre Belastungsgrenze hinaus erschüttert hat. Plötzlich tritt zum Beispiel ein angsterfüllter, infantiler Selbstanteil in Erscheinung. Manchmal tauchen jedoch auch aggressive oder besonders lustige oder ehrgeizige Ego-States auf, die über Kompetenzen verfügen, die die Anscheinend Normale Persönlichkeit nicht zu vertreten wagen würde. Auch die ANP kann nämlich Ängste haben, von denen gewisse EPs frei sind. In der antidissoziativen PT wird geübt, das Switchen besser zu kontrollieren; entweder abzuwenden oder für das Gesamtsystem funktional zu nutzen, indem die jeweils kompetentesten Anteile nach vorn gebracht, bzw. bedürftige Anteile angemessen versorgt werden.

Ein erschütternd wirkender Reiz, der psychische Störung auslöst, wird als “Trigger” bezeichnet. Solch ein Reiz kann rein persönliche Bedeutung haben und  objektiv betrachtet trivial sein. Phobische Menschen werden auch getriggert, etwa von Brücken und Aufzügen. Sie bekommen dann Panikattacken. Patienten mit dissoziativer Störung dagegen reagieren mit Bewusstseinsstörungen, zum Beispiel dem Switchen. Manchmal merken sie selber davon lange nichts. Die ANP hat eine Amnesie für das Tun der EP und weiß vielleicht nicht einmal von Einkäufen oder Gesprächen, die stattgefunden haben. Im besseren Fall merkt die ANP später, dass da etwas gewesen sein muss, und stellt unbehaglich einen „Zeitverlust“ fest. Im schlechteren Fall bleiben der ANP ihre dissoziativen Lücken ganz unbewusst, so dass sie sie auch in der Rückschau nicht schließen kann. Diese Inkohärenz, von der die Umwelt lange nichts ahnt, kann Ursache erheblicher Konflikte werden. In der PT wird nicht nur bei DIS, sondern auch Angststörungen u.a. ein besserer Umgang mit Triggersituationen geübt.

Je stärker die Ego-States voneinander getrennt sind und je unkontrollierter sie auftreten, umso stärker und belastender die Störung. Manchmal spricht man dann auch von „Multipler Persönlichkeit“. Manche Patientinnen wissen, dass sie „multipel“ sind, lernen aber ihre Ego-States allmählich gut kennen. Zwar können sie manche Gefühle und Fähigkeiten nicht ausreichend in die Hauptpersönlichkeit integrieren, so dass die ANP möglichst umfassend kompetent wird, also auf angemessene Weise Angst und Wut haben, lustvoll und tüchtig sein kann etc.. Aber manche EPs arbeiten mit der Zeit „kooperativ“ und können auf diese Weise ihre Belange immer erfolgreicher nach außen vertreten. So tauchen dann, dem Gesamtsystem nicht völlig unbewusst, die spezialisierten EPs auf, die für das System etwas bewirken sollen: Aufmerksamkeit, Konfliktstärke, Spaß etc., und es entsteht eine gewisse Befriedigung.

Ist das dann nicht schon fast genauso gut wie eine Seele ohne Ego-State-Kompartimentierung? Gegenfrage: Möchten Sie lieber eine „Universalfernbedienung“ oder zehn einzelne Fernbedienungen? Von denen einige auch noch defekt sind, so dass sie, wenn man sie benutzt, versehentlich andere Geräte abschalten oder stören? Na gut, der Vergleich hinkt. Aber die „defekten Störfernbedienungen“ sind das Problem. Leider stehen EPs und ANP untereinander oft in großer Spannung. Die Teilkompetenzen mögen hoch funktional sein, aber dennoch ist es so, als ob ein Blinder, ein Lahmer, ein Tauber eine Kooperative bilden und so ihr Leben bestreiten müssten. Geht auch, ist aber mühsam (bitte Nachsicht mit meinen hoffentlich nicht zu geschmacklosen Vergleichen). Im schlimmsten Fall sind die drei auch noch untereinander misstrauisch und zerstritten.

Die innere Spannung rührt nicht nur aus der suboptimalen Hirnstruktur her, sondern auch aus schrecklichen Erinnerungen und alten, teilweise gezielt einsuggerierten Fehlprogrammierungen („du bist schuld“ – „du hast es so gewollt“). Die Patient/innen waren Einflüssen ausgesetzt, die in ihnen riesige Scham, Schuldgefühle, Verlustangst, Todesangst, Bestrafungsangst , Rachewünsche, Ekel, sexuelle Entwicklungsstörungen etc. hinterlassen haben. Vor diesen brennenden Emotionen sind sie ständig „auf der Flucht“. Man spricht von der „Phobie vor dem inneren Erleben“. Ist diese Phobie zu groß, werden manche Erinnerungen und Zustände gar nicht mehr wahrgenommen, durchdacht, „reflektiert“. Sie bleiben abgespalten. Wie oben gesagt, kann eine Abspaltung bis zu einem gewissen Grad entlastend sein und gehört in dieser Form dringend zu einem gesunden Seelenhaushalt dazu. Nimmt dieser Mechanismus aber überhand, ist also die Phobie vor dem inneren Erlben zu groß, wird dies die Gräben der dissoziativen Struktur, also die DIS noch vergößern und die Entwicklung adäquater Bewältigungsstrategien verhindern. In der antidissoziatven PT wird man daher behutsam versuchen, mit diesen phobischen Ängsten anders umzugehen.

Es gibt viele Betroffene, die Ego-States schon aus ihrer Kindheit kennen. Andere leben jahrelang vermeintlich rein im Zustand der Anscheinend Normalen Persönlichkeit, obwohl in der Rückschau signifikante Phasen von Zeitverlust zu eruieren sind.  Doch erst ein belastendes Ereignis von retraumatisierendem Ausmaß, zum Beispiel ein Konflikt oder eine schwere Erkrankung lässt das Vollbild der Problematik deutlich werden. Die neu hinzugetretene Belastung überfordert das System,  EPs kommen so häufig und situationsinadäquat nach vorn, dass im Leben der Betroffenen vermehrt Komplikationen extern und intrapsychisch auftreten. Dergleichen dissoziative Phänomene sind an sich schon störend und mithin erschreckend, so dass das wiederum die Angst vermehrt. Ein Teufelskreis entsteht. Hier ist zunächst dringend Psychoedukation, sprich Störungsaufklärung nötig, damit die Patient/innen sich nicht vor sich selber fürchten oder sich gar für „Schauspieler“ halten. Viele Betroffene leugnen die Problematik lange vor sich selbst und erst recht vor Umwelt und Behandlern.

Patientinnen, die ihre Multiplen Anteile schon besser kennen, haben oft „hochromantische“ und nicht wissenschaftlich fundierte Erklärungen für ihre psychischen Besonderheiten. Psychoedukation stößt hier nicht immer gleich auf Gegenliebe, weil alles so nüchtern und letztlich mit den Gräueln der Vergangenheit erklärt wird, die man ja allein schon in der Erinnerung phobisch flieht. Die romantischen Konzepte bieten dagegen eine gewisse tröstliche Verklärung. Mit dieser „Ressource des Symptoms“ soll respektvoll umgegangen werden. Zugleich muss Akzeptanz des realen Handicaps entwickelt werden und zwar auf dem Boden medizinischer Erkenntnisse. Akzeptanz bedeutet hier Trauerarbeit und die Einsicht, dass man einen nicht gerade einfachen therapeutischen Prozess vor sich hat, bei dem die Betroffenen aktiv stark gefordert sind. Ebenso wie bei andern signifikant erkrankten Menschen wird sich dabei zunächst oft Abwehr und Entsetzen zeigen. Jugendliche Diabetiker zum Beispiel müssen meist erst mehrfach auf dem Pausenhof zusammenbrechen, ehe sie ihr Lebensschicksal mit dem unausweichlichen Insulin akzeptieren und handhaben lernen. Immerhin gilt hier wie auch bei den psychischen Krankheiten: Die Patienten dürfen sich heutzutage von der wenngleich mühsamen Therapie etwas versprechen. Eine DIS ist keine Zauberei, sondern ein traumatisch bedingter Hirnschaden. Schreckliches Wort. Aber irgendwie auch nüchtern. Schlimm genug, aber irdisch, menschlich und mit deutlichen Erfolgen behandelbar. Ich wünsche allen Betroffenen den Mut, die Ausdauer und die Chance zu einer entsprechenden Therapie.