Im letzten Artikel haben wir uns angeschaut, wie Angst entsteht, und welche Faktoren zur vermehrten Angstbildung beitragen. Erhöhte Angstbereitschaft heißt aber nicht unbedingt, dass der Mensch auf den ersten Blick einen ängstlichen Eindruck macht. Im Gegenteil: Je früher man angstfördernden Einflüssen ausgesetzt war, umso größer die Wahrscheinlichkeit, dass auch Strategien eingeübt wurden, um Angst zu bewältigen. Diese früh antrainierten Strategien gehen so in Fleisch und Blut über, dass sie schließlich den Charakter prägen und oft ein ganzes Leben überdauern. Wenn es gesunde, also der Realität gut angepasste Strategien sind; wenn ein vielfältiges Repertoire von Verhaltensweisen angelegt wird, hat der Betroffene gute Chancen, sein Leben erfolgreich zu bewältigen. Wenn es mit starken Nachteilen behaftete und wenig variable Strategien sind, entsteht eher ein problematischer Charakter.

Doch das ist noch keine Krankheit, wenn auch Mitmenschen sich beschweren mögen. Vielmehr sind die schwierigen Charakterzüge ja gerade entstanden, um eine Angst, die krank machen könnte, zu vermeiden. Angst ist unbeliebt. Nicht allein, dass sie sich schlecht anfühlt; sie ist wirklich hinderlich: Man kann sich nicht mehr normal bewegen, nicht klar denken und reden, macht einen kläglichen Eindruck. Also versuchen wir, das Angstgefühl klein zu halten, wobei wir vergessen, dass oft erst die Angst uns den nötigen Handlungsanschub verleiht. Die individuellen Voraussetzungen zur Angstabwehr sind natürlich unterschiedlich ebenso wie die Vorbilder, an denen wir uns orientieren, und so kommt es zur Ausprägung der unterschiedlichsten Charaktere, die wir uns hier vor Augen führen wollen.

  1. Der kontrollierende Charakter

Kontrollieren kann man auf viele Weisen, zum Beispiel indem man sehr penibel alle Fehler ausmerzt. Das ist in vielen Situationen hilfreich, solange man vor Anspannung keine Migräne bekommt oder sich und andere mit Ordnungstyrannei verfolgt. Man kann auch kontrollieren, indem man manipuliert. Das geschieht zum Beispiel auf sexueller Ebene: Die Frau verspricht (weniger mit Worten als durch ihr Auftreten) große sexuelle Erlebnisse, der Mann hat Prestige zu bieten – aber beide nutzen ihre schönen Güter nur, um damit zu locken und zu lenken. Zur wirklichen Belohnung kommt es nicht, stets nur zum „Beinahe“. Die so Verführten bleiben unbefriedigt und mithin kontrollierbar. Man entschuldige das Rollenklischee, es kommt auch mal umgekehrt vor. Eine solche Haltung ist abzugrenzen von der eines Menschen, der mit seinen Reizen prunkt, um echte sexuelle Erfolge zu erzielen.

Kontrollieren kann man außerdem, indem man unter entsprechender Anstrengung Geld verdient und hortet. Geld ist Macht. Muskelkräfte sind heute nicht mehr so bedeutsam. Vielmehr ist die Willensstärke eine konstitutionelle (angeborene) Voraussetzung zur Ausbildung eines kontrollierenden Charakters. Es ist aber immer die Frage, ob Willensstärke zu mehr als nur zur Angstvermeidung eingesetzt wird. Man kann mit großen Leistungen die Menschheit weiterbringen. Man kann es aber auch machen wie Donald Duck, über den seine Neffen sagen:

„Wenn er so viel Energie zum Arbeiten aufbringen würde wie zum Nicht-Arbeiten, wäre er längst ein reicher Mann.“ Muss der eine Angst vor der Arbeit gehabt haben. Oder vor Entscheidungen. Für stark kontrollierende Menschen ist jede Entscheidung eine Herausforderung, weil Entscheidungen immer in die Zukunft weisen – und die Zukunft entzieht sich selbst den hartnäckigsten Kontrolleuren. Zudem bedeutet Entscheidung für das eine stets Verzicht auf das andere – eine Gottgegebenheit, die willensstarken Menschen nicht recht einleuchtet. Je klüger und kreativer sie sind, umso länger werden sie versuchen, beides zu kriegen: Das Geld und die Bequemlichkeit (wie Donald), die Freiheit und die Bindung, den Tabak und die intakten Bronchien. Aber leider gibt es echte Unmöglichkeiten in dieser Welt. Daran können sich die Willensstarken ganz schön ihre Zähne ausbeißen und möglicherweise auch ihrer Umgebung mit endlosen Versuchen und Ansprachen auf die Nerven gehen. Hier hilft nur mutiges Zupacken auf der einen und tapferer Verzicht auf der andern Seite.

  1. Der vermeidende Charakter:

Man kann ausweichend werden, den Mund nicht aufmachen, Ziele niedrig stecken, andern den Vortritt lassen. Schüchternheit, die sich schon in der Schule nachteilig auf die mündliche Note auswirkt, wird nicht selten vererbt. Wo die nötige Ermutigung fehlt, wird sie vielleicht nie überwunden. Es kann ein Zustand dauernder Verlegenheit eintreten – „verhuscht“ nennt man diese Leute manchmal. Eine solche Problematik wird sich auf die Berufs- wie Partnerwahl auswirken. Vermeidende Personen siedeln ihre Fähigkeiten zu niedrig an, haben Hemmungen, jemanden anzusprechen, und fürchten die Nähe, wenn es tatsächlich zu einer Beziehung kommt. Angst vor Nähe heißt, Angst verletzt zu werden oder an Autonomie zu verlieren, und ist in Ansätzen bei jedem vorhanden. Kritisch wird es erst, wenn schon geringe Frustrationen großen Rückzug auslösen. Möglicherweise abwechselnd bei beiden Partnern, denn sehr häufig finden wir mit jemandem zusammen, der uns psychisch ähnlich ist. Das kann natürlich die Beziehung enorm erschweren.

Die Sache wird nicht einfacher, wenn wir uns klarmachen, dass neben der Angst eine große Sehnsucht nach Nähe bestehen kann – eben deshalb, weil es nur selten zu echter seelisch-körperlicher Berührung kommt, die wir eigentlich brauchen wie das Essen. Angst vor Nähe macht keineswegs liebesunfähig, erschwert aber die Befriedigung von Liebesbedürfnissen. Typisch Mensch, dieser innere Widerspruch.

Vermeidendes Verhalten wird im Berufsleben Probleme machen, weil eine konfliktscheue Person die in jedem Job unvermeidlichen Auseinandersetzungen fürchtet. Wenn ängstliche Menschen einen Konflikt wittern, fantasieren sie sogleich gewaltige Folgen herbei. Sie nehmen die Dinge zu tragisch und können deshalb ihre Interessen nicht angemessen vertreten. Meist werden sie ausweichen, manchmal aber auch mit übertriebener Heftigkeit vorpreschen. Das erzeugt auf die Dauer großen Stress.

Die Angst vor unangenehmen Wahrheiten (ob es sich nun um eigene Fehler oder die der andern handelt) kann von der Naivität bis zur Unaufrichtigkeit führen. Manche Menschen wollen die Wahrheit gar nicht wissen, sondern verleugnen und verdrängen die Tatsachen. Andere sehen schon, wie es um die Sache bestellt ist, reden aber gezielt an allen kontroversen Punkten vorbei. Es wird dann für Außenstehende schwierig, solche Personen von denen zu unterscheiden, die lügen, um sich unrechte Vorteile zu verschaffen.

  1. Der passiv-fordernde Charakter:

Ängstliche Menschen haben oft den Eindruck, dass weniger furchtsamen Naturen das Leben leichter fällt. So entwickeln sie Verhaltensweisen, mit denen sie andere dazu bringen, ihnen das zu verschaffen, was sie allein nicht zu erlangen wüssten. Sie bitten, jammern, machen Versprechungen und Vorhaltungen. Darüber hinaus können sie auch drohen und schimpfen, wenn es sie ihren Wünschen näherbringt.

Gern suchen solche Leute sich einen Beschützer (Kamerad, Ehemann, Vater, Hund), wogegen im Prinzip nichts einzuwenden ist. Bleibt nur die Gefahr, dass man im Schatten eines noch so wohlwollenden Beschützers die Fähigkeit, für sich selbst zu sorgen, immer mehr einbüßt. Und wer weiß, ob man die nicht doch nochmal braucht. Abgesehen davon, gibt es auch gar nicht so nette Beschützer, die eine Abhängigkeit fördern, um sie über Gebühr auszunutzen, zum Beispiel sexuell oder finanziell. Das ist dann nicht mehr bequem, sondern bedrückend. Umgekehrt finden sich Schützlinge, die mit manipulativen Techniken wie dem Liebesentzug die Kontrolle über ihre Helfer behalten und diesen (zur Verblüffung der Betrachter) das Leben sauer machen.

Manche Menschen wirken auf ihre Kinder ein, die zunächst ja in einer natürlichen Abhängigkeit stehen, um durch sie oder in deren Gestalt die erwünschten Erfolge zu erzielen. Kinder, die auf diese Weise eingespannt werden, können sich oft nur unter großen Anstrengungen von den fordernden Eltern lösen.

  1. Der ironisch bis zynische Charakter:

Manche Leute entwickeln eine ironische, spöttische oder zynische Haltung, hinter der sie ihre Ängste sogar vor sich selbst verbergen. Sie wissen nicht, dass sie ausweichen, sondern meinen von oben herab: „Das habe ich nicht nötig“. In der Liebe machen sie nie den mutigen Sprung vom Dreimeter-Brett, indem sie „Ich liebe dich“ sagen, ehe der andere es getan hat. Eher kommen sie mit zweideutigen Sprüchen, die man als Antrag verstehen könnte; die sich aber jederzeit umdeuten lassen, falls die ersehnte Gegenliebe ausbleibt oder, wie in der Liebe häufig, eine aggressive Anwandlung sich abreagieren möchte. Die Durchkreuzung aller Hoffnungen mit dem Satz: „Was bildest du dir ein, das habe ich nie gesagt“, ist ein probates Mittel und entspricht bei solchen Leuten sogar der Wahrheit.

Allerdings sind auch ironische Menschen liebebedürftig. Da sie selbst ihre Gefühle tarnen, vermuten sie Gleiches bei andern und reagieren hellhörig auf jede Äußerung: Verbirgt sich dahinter vielleicht ein Geständnis? Oder eine Zurückweisung? Sie deuten jede flüchtige Bemerkung mit der Hingabe eines Schriftgelehrten. Auf diese Weise fantasieren sie großartige, aber widersprüchliche und abwegige Dinge über ihren Partner zusammen. Am Ende finden sie die Lage beängstigend undurchschaubar. Wenn gar eine Ironikerin ihren Ironiker trifft, werden die zwei sich zwar ein geistreiches Verwirrspiel liefern, irgendwann aber beide entmutigt mit ihrer Liebe zusammenbrechen. Tragisch, denn wenn sie ihre Ängste überwunden und mal Klartext geredet hätten, hätten sie wahrscheinlich gut zusammengepasst.

Sollte ein solcher Mensch das Pech haben, dass schließlich alles Vertrauen kaputtgegangen ist, stellt sich Verbitterung ein. Man schaut sich um und sieht, wie andere geschafft haben, was einem selbst versagt blieb. Die allfälligen Fantasien tragen auch hier ihren Teil bei und gaukeln dem Enttäuschten vor, dass in andern Häusern großer Reichtum, Wunderliebe, sagenhafte Zufriedenheit herrsche. Solche Vorstellungen sind natürlich unerträglich und müssen daher „erbittert“ bekämpft werden. Man sagt man sich, dass der andere dumm, spießig, korrupt und das Leben die Hölle ist. Ist ja auch schlimm, wenn ein intelligenter und sensibler Mensch so scheitert. Wo sich erst einmal Verbitterung eingestellt hat, wird man immer empfindlicher, kränkbarer und geht in Richtung passiv-fordernd: Kommt denn gar kein Wiedergutmachungsangebot vom lieben Gott? Oder von irgendwem sonst? So hoffen auch Leute, die nicht aus eigener Problematik, sondern aufgrund ungünstiger Schicksalsläufe gescheitert sind. Doch leider wartet man meist vergebens, wenn man sich nicht selbst wieder den nötigen Ruck gibt. Was auch heißen kann, dass man sich bei andern Menschen Ermutigung und Anleitung holt, um einen erneuten Anlauf zu nehmen – wie es in jedem Leben von der Wiege bis zur Bahre immer wieder nötig ist.

An dieser Stelle unterbreche ich, damit der Artikel nicht zu lang wird. Teil 2 kommt bald mit folgenden Bildern: Der dissoziative Charakter – der sammelnde Charakter – der schreckhafte Charakter – der kontraphobische Charakter.