Alle höheren Tiere zeigen unter Bedrohung Angst. Anders als der Mensch wird sich ein Tier in freier Wildbahn aber nur fürchten, wenn eine reale Bedrohung existiert. Der Mensch dagegen fürchtet sich auch vor seinen Fantasien. Das ist manchmal nützlich. Wir sind schließlich das bei weitem intelligenteste Wesen auf Erden, und wenn wir aus unseren Erfahrungen lernen, kann unsere Fantasie uns helfen, künftigen Schaden zu vermeiden. Solch ein Effekt lässt sich auch bei manchen Tieren im wissenschaftlichen Experiment beobachten: Bei der sogenannten Konditionierung vermittelt man einer Ratte, dass zwei Reize stets zusammen auftreten, beispielsweise ein Glockenklang und ein unangenehmer Stromimpuls. Nach einer Weile wird die Ratte erschrecken, selbst wenn sie nur die Glocke hört. Den unangenehmen Impuls hat sie hinzufantasiert. Solchen Konditionierungseffekten unterliegt auch der Mensch. Allerdings verankern sie sich oft viel tiefer als beim Tier, das, wenn die Reizkopplung nicht mehr trainiert wird, bald wieder vergisst. Menschen dagegen unterliegen oft lebenslangen Aversionen, wenn sich erst einmal eine ungünstige Assoziation eingestellt hat.

Tiere haben nicht viel Fantasie und Lernvermögen, sie haben dafür Instinkt. Eine Maus rennt instinktiv davon, wenn der Habicht kommt. Bekanntlich fangen Habichte aber immer noch genügend Mäuse, um als Art zu überleben. Mäuse müssen ihren Mangel an Intelligenz durch Fortpflanzungsfreudigkeit wettmachen. Die Menschen dagegen haben sich dank ihrer Intelligenz über den Status des Beutetiers hinaus entwickelt. Sie sind fähig, weitaus stärkere Tiere erfolgreich zu jagen und zu züchten. Das sind die positiven Seiten des Geistes. Negativ muss man verbuchen, dass dieser einmalige Menschengeist nicht nur gute Einfälle hat. Was die für die Gemeinschaft schlechten Einfälle betrifft, so ist uns klar, dass es keine gute Idee ist, Kriege zu führen, Andersgläubige zu morden, zu prassen und zu wüten, obwohl all diese Konzepte ausgiebig von der Menschheit praktiziert werden. Es gibt aber auch Einfälle, die für das Individuum schlecht sind. An dieser Stelle reden wir von den Menschen, die zu viel Angst haben. Sie fürchten sich nicht nur vor realen Gefahren. Sie fürchten sich vor dem, was sich nur in ihnen selbst abspielt. Angst findet dabei nicht nur im Kopf statt. Wenn wir einen Angstgedanken haben wie:

„Vielleicht falle ich durch“, oder

„Vielleicht fällt das Flugzeug vom Himmel“ (reale Wahrscheinlichkeit: 1 : 11.000.000),

dann reagieren wir körperlich mit Puls- und Druckanstieg, Blässe oder Rötung, Erstarrung oder Zittern – entsprechend der alten tierischen Stressreaktion, die entweder auf Flucht oder Totstellreflex hinauswill. Außerdem stellt sich ein Angstgefühl ein. Interessanterweise gibt es Menschen, die gar keine Angstgedanken mehr haben, aber dennoch anfallsweise von intensivem Angstgefühl samt entsprechender Körperreaktion heimgesucht werden. Da die zugehörigen Gedanken fehlen, können sich die Betroffenen ihre sogenannten Panikattacken selbst nicht erklären, eine unangenehme Situation.

Kurzum, die reiche Geistestätigkeit des Menschen beschert ihm auch eine Vielzahl von „dysfunktionalen“, also fehlplatzierten Ängsten. Die Menschen sind allerdings unterschiedlich anfällig für Ängste. Folgende drei Faktoren begünstigen die Ausbildung eines ängstlichen Charakters:

 

  1. Angsterkrankung bei Angehörigen ersten Grades (konstitutioneller Erbfaktor).

  2. Übervorsichtige Erziehung, die dem Kind zu wenig eigene Erfahrungen und Erfolgserlebnisse ermöglicht.

  3. Beängstigende Erfahrungen, vor allem wenn in der Kindheit erlitten.

Sehen wir uns die drei Faktoren näher an.

Die familiäre Konstitution:

Man muss sich vorstellen, dass Angst die Folge verschiedener stofflicher Vorgänge im Gehirn ist. Was bei der Entstehung von Angst im Kopf vor sich geht, ist nicht im Einzelnen klar. Man geht davon aus, dass das Limbische System (ein entwicklungsgeschichtlich altes Hirnsystem) stark beteiligt ist. Also sagen wir für unsere heutigen Zwecke, wer ein hoch reagibles Limbisches System erbt, schüttet mehr „Angsthormon“ aus als andere Leute. „Angsthormon“ ist mein privater Begriff und unwissenschaftlich, es liegt tatsächlich ein komplexes Zusammenspiel verschiedener noch nicht erforschter Transmitter vor. Mit der vereinfachten Vorstellung eines „Angsthormons“ lassen sich aber manche typischen Züge von Angstentwicklung gut verstehen. Was man weiß, ist, wie sich die Angstflut stoppen lässt: Durch die Stimulation „hemmender“ Hirnschaltstellen (Synapsen). Der hier wirksame Transmitter ist die Gammaaminobuttersäure (GABA). Das hat man auch nur herausgefunden, weil sich eine GABAerg wirkende Medikamentengruppe, die Benzodiazepine („Tranquilizer“, „Valium-Abkömmlinge“) als stark angstlösend erwies. Benzodiazepine gehören sicher zu den am liebsten konsumierten Medikamenten.

Die Angstentstehung erinnert insofern an andere hormonelle Prozesse, als auch hier eine  Rückkopplung, und zwar eine positive, wirksam scheint. Das heißt, die Produktion steigt mit der Nachfrage – wie beispielsweise bei der Muttermilch. Je mehr das Baby trinkt, umso mehr wird das Hormon ausgeschüttet, das die Milchbildung anregt. Bei der Angst ist es ähnlich: Wo viel „Angsthormon“ fließt, wird das zuständige System immer „effektiver“, und der Betroffene wird auf die Dauer nicht stumpfer, sondern empfindlicher. Die Angstgefühle nehmen  an Intensität und Häufigkeit bis zur Unerträglichkeit zu. Frauen sind von krankheitswertigen Angststörungen häufiger betroffen als Männer, wobei zu bedenken ist, dass die Frau als das körperlich schwächere Geschlecht von Natur aus tatsächlich einer größeren Bedrohung unterworfen ist, nicht zuletzt durch den Mann. Die familiäre Häufung von Angststörungen, also ihre Vererbbarkeit, ist gut belegt. Vererbt wird die Übererregbarkeit des Limbischen Systems.

Die übervorsichtige Erziehung

Kinder müssen frühzeitig einen guten Umgang mit alltäglichen Gefahren lernen, sei es im Straßenverkehr, im Schulhofkonflikt oder in der Küche. Dazu brauchen sie Anleitung durch ihre Erzieher, doch auch den Freiraum, eigene Versuche zu machen. Schwimmen lernt man nicht an Land, und mit Gefahren wird nicht fertig, wer nur in Büchern davon liest. Tägliche Übung ist nötig, damit ein kleiner Mensch die vielen Strategien erlernt, die das Leben erfordert: Wann müssen wir uns wehren und wie, wann anpassen, wann weglaufen, wann uns mehr anstrengen und Leistung bringen? Der Mensch hat es nicht im Instinkt, sondern muss das Allermeiste erlernen. Hilfreich sind Eltern mit gutem Augenmaß, die dem Kind Auslauf lassen und es anspornen durchzuhalten, aber rechtzeitig merken, wann ihr schützendes Eingreifen nötig ist. Nicht hilfreich sind Eltern, die aus eigener Angst dem Kind alles abnehmen und jeden kleinen Schritt begleiten. Ebenso wenig Eltern, die über die Schlechtigkeit der Welt lamentieren und die Schuld an Niederlagen des Kindes stets bei andern suchen, so dass das Kind den Eindruck gewinnt, mit seinen schwachen Kräften ohnehin dem Untergang geweiht zu sein. Ebenso wenig Eltern, die ihr Kind auf einen Thron setzen und seinen Glauben an die eigene Großartigkeit nähren. Man kann einen kleinen Menschen, der für Schmeichelei nicht weniger anfällig ist als wir alle, so sehr loben und verwöhnen, dass er aus allen Wolken fällt, wenn er außerhalb des Elternhauses plötzlich nur eine Nummer unter vielen ist. Dann tritt zur Angst meist noch maßlose Wut auf die Welt als solche und besonders auf Eltern, die Erwartungen geweckt haben, welche das Leben nun nicht erfüllt.

Klar, dass insbesondere ängstliche Eltern anfällig für die genannten Erziehungsfehler sind (und manchmal auch Eltern, die ihre eigenen Frustrationen und unerfüllten Hoffnungen auf ihre Kinder abladen). Es ist leider so: Wenn die Mutter sich erschreckt, merkt ein Kind das und wird gleichfalls unsicher. Dies Problem kann  die Mutter nur lösen, indem sie ihre eigenen unangemessenen Ängste überwindet und laut sagt: „Alles in Ordnung.“ Wenn ein Kind jedoch eine ängstliche Konstitution geerbt hat und zudem übervorsichtig erzogen wird, stehen die Chancen gut, dass es sich zwar nie einen Knochen bricht (Mami passt ja auf), aber ein arger Angsthase wird.

Beängstigende Erfahrungen

Am nachhaltigsten und schädlichsten wirken sich gravierende beängstigende Erfahrungen aus. Es kann sich um einzelne schlimme Ereignisse  wie einen Unfall oder einen frühen Verlust handeln, die man als Psychotrauma bezeichnet. Es kann aber auch dauerhaft ein Klima der Angst herrschen wie in einem zu strengen oder kalten Elternhaus, bei Anwendung von Leibesstrafen, in der Armut, bei chronisch schwerer Krankheit oder Sucht. Falls derart ernste Schwierigkeiten vorliegen, ist manchmal eine Familientrennung die beste Maßnahme, die dann auch kleine Leute als beruhigend erleben. Wo so gravierende Faktoren fehlen, wirkt eine Scheidung wiederum eher traumatisierend auf Kinder, die es beschämend finden, wenn ihre Eltern sich einfach nicht vertragen. Oder sie können die (meist ja auch sehr subjektiven) Vorzüge eines neu aufgetauchten Liebespartners nicht nachvollziehen. Da zu einer Ehe bekanntlich stets zwei gehören, ist eine Trennung trotzdem zuweilen unvermeidlich, wenn es ein Partner an Treue oder Kooperation zu sehr fehlen lässt.

Manche Menschen müssen mehr als eine  Krise durchmachen, werden zum Beispiel zu ständigen Opfern von Straftaten wie im Fall des fortgesetzten sexuellen Missbrauchs. Manche Eltern merken nicht, wenn ihr Kind außer Haus drangsaliert wird, so dass sie nicht helfend eingreifen. Sie haben nicht die nötige Aufmerksamkeit, nehmen das Kind nicht wichtig oder fühlen sich selbst machtlos und gehen deshalb mit Missständen, die sie wahrnehmen, ignorierend um. Natürlich sind auch Eltern nur Menschen, die mit dem eigenen Schicksal überfordert sein mögen. Natürlich sind auch sie bösen Einflüssen unterworfen, die charakterliche Veränderungen zum Negativen bewirken können. Aber ich möchte festhalten, dass Eltern e_rwachsen_ sind und somit über ein gewisses Repertoire von praktischen Fähigkeiten, Einsicht und Moral verfügen _müssten_, das sie den Anforderungen des Lebens gemäß weiter ausbauen sollen. Eine Anforderung des Lebens sind Kinder, für deren Werdegang bis zur Volljährigkeit Eltern verantwortlich sind. Daher sollten sich Väter und Mütter von Zeit zu Zeit fragen, ob sie ihre Sache gut machen. Wenn sie nicht tun, was in ihren Kräften steht, wird das gute Potenzial ihrer Kinder sich nicht recht entwickeln oder gar zerstört werden.

Beängstigende Erfahrungen untergraben das Vertrauen in die Welt und die eigene Person; natürlich umso mehr, je belastender  diese Erfahrungen waren. Je kleiner der Mensch, desto härter trifft es ihn. Ein Kind hat noch keine Ressourcen, auf die es zurückgreifen kann, um sich zu schützen, keine Bewältigungsstrategien oder schönen Erinnerungen, die sich tröstlich abrufen lassen. Ein ganz kleiner Mensch versteht nicht einmal die einfachsten Zusammenhänge. Vielmehr fantasiert sich der kindliche Geist Erklärungen für sein Leiden zusammen, die magisch, erschreckend und falsch sind, aber nun für immer in die Fundamente der Seele eingeprägt werden und von dort eine Wirkung entfalten, die man sich später kaum noch bewusst machen kann, und die deshalb ganz unkontrolliert zum Zuge kommt.

Schließlich wirken sich auch die Krankheiten, die ein Kind selbst und womöglich schon als Baby erlebt, beängstigend aus – vor allem, wenn es langwierige Leiden waren, oder wenn die nötige elterliche Unterstützung fehlte. Selbst wenn eine Gesundheitsstörung später völlig ausheilt, kann die ausgestandene Angst lebenslange Folgen nach sich ziehen, weil das Limbische System übererregbar bleibt. Krankenhausaufenthalte sind schon als solche traumatisierend, wie auch andere verfrühte Trennungen vom geliebten Umfeld.

Wenn man bedenkt, was uns alles zustoßen kann, und in wie vielen Gegenden der Welt Chaos und Katastrophen eher die Regel als die Ausnahme sind, möchte man schaudern. Nur dank unseres derzeit gut etablierten Wohlstands sind wir hier in Deutschland in der Lage, Betrachtungen wie diese anzustellen, die vielleicht dazu führen, dass wir uns ein wenig besser verstehen und lenken lernen.

Jeder Mensch will möglichst wenig Angst haben. Dies führt zur Ausbildung unterschiedlichster Charaktere, die alle auf ihre Weise versuchen, den Ausbruch von Angst zu verhindern. Nicht immer gelingt dies allerdings befriedigend. Manche Charakterzüge, die sich zur Abwehr von Angst herausbilden, machen ihren Träger kompliziert oder unsympathisch. Manche Abwehrmechanismen sind so dysfunktional, dass sie dem Betroffenen krankheitswertiges Leiden verursachen. Manchmal bricht die Abwehr ganz zusammen, und die Patienten werden von chronischer oder anfallsweiser schwerer Angst geplagt. Menschen, die schwere Traumatisierungen erleiden mussten, können anhaltende unkontrollierbare Ängste entwickeln, die nicht einmal bei völliger Reizkarenz und Zurückgezogenheit schwinden.

Angststörungen stellen die häufigsten psychischen Krankheiten in Deutschland dar. Die Auswirkungen von Angst auf die Persönlichkeit sind vielfältig, wir werden uns in den nächsten Kapiteln damit beschäftigen. Danach folgt ein Kapitel zu den Therapiemöglichkeiten von Angst.