Die meisten Betroffenen sagen: „Man kann sich gar nicht vorstellen wie grässlich eine Depression ist, wenn man selbst noch keine erlebt hat“. Gewisse für Depressionen typische Symptome kennen wir freilich alle:

Niedergeschlagenheit, Antriebsmangel, Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen, Selbstzweifel, Unruhe, Ängstlichkeit, häufiges Weinen, Reizbarkeit, sozialer Rückzug, Appetitmangel oder –steigerung, sexuelle Unlust.

Diese Zustände sollten nur nicht wochenlang anhalten oder gar schlimmer werden:

Gefühl der “Gefühllosigkeit”, der Aussichtslosigkeit, Verzweiflung, Grübelzwang, Gedankenkreisen um immer dasselbe Thema, innere Leere, Unfähigkeit zu entspannen, Unfähigkeit zu weinen oder zu lachen, Morgentief. Wenn sich solche Störungen einstellen, braucht man dringend ärztliche Hilfe, sonst geht es womöglich noch weiter bergab:

Antriebsverlust, Unfähigkeit zum Aufstehen und zu den alltäglichsten Verrichtungen, Überzeugung, nichts wert zu sein, Überzeugung, sich rettungslos versündigt oder verschuldet zu haben, erlahmtes Denken, Wunsch das Leben zu beenden.

Wie kommt diese Erkrankung unseres Denkens und Fühlens zustande? Man geht von mehreren Faktoren aus:

Unser seelischer Apparat ist noch nicht restlos erforscht, aber wir wissen, dass das Zusammenspiel gewisser chemischer Botenstoffe im Gehirn unser Denken und Fühlen reguliert. Diese Botenstoffe (Transmitter) übermitteln Signale von einer Gehirnzelle zur andern. Von besonderer Bedeutung sind hier Serotonin und Dopamin. Wenn das Gleichgewicht der Transmitter nicht mehr stimmt, entstehen psychische Störungen. Aber was führt denn zu einer Entgleisung des Transmitterstoffwechsels? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns zunächst klarmachen, dass unsere „Seele“ gleichsam ein Verdauungsapparat für all die äußeren Einflüsse ist, denen wir tagtäglich ausgesetzt sind. Jeder Tag gibt uns viel zu denken und zu fühlen, Leichtes und Schweres. Von den leichten Dingen erkranken wir nicht. Es ist mit der Seele wirklich wie mit dem Darm: Wenn wir ständig gezwungen sind, Schwerverdauliches zu uns zu nehmen, bekommen wir nach und nach Probleme. Neben den äußeren Faktoren bestehen innere Befindlichkeiten, die uns unter Druck setzen. Wir sprechen von „Trieben“. Außer dem vielberufenen Sexualtrieb gibt es Triebe, sich selbst zu behaupten, eigene Fähigkeiten zu verwirklichen, Ansehen und Besitz zu gewinnen.

Natürlich sind die Menschen verschieden. Der eine hat heftige Leidenschaften (poetischeres Wort für Triebe), der andere liebt seine Ruhe und schafft sich freiwillig keine großen Herausforderungen. Allerdings beruht im Leben nicht alles auf Freiwilligkeit. Wir wissen nicht, welche Konflikte (poetischer ausgedrückt „Prüfungen“) unser Schicksal für uns bereithält. Angenommen es erwischt uns – entweder, weil unser Inneres uns treibt, oder weil das Leben uns hart hernimmt – werden dann alle depressiv?

Ja, könnte man sagen, wenn es zu schlimm kommt, dann wird wohl jeder Mensch eine depressive Verstimmung entwickeln. Aber wie schnell oder wie gut man sich in der Folge erholt, das ist wieder sehr unterschiedlich. So wie Menschen überhaupt auf Belastungen verschieden reagieren. Wie kommt das? Zum einen geht man von einer genetisch bedingten unterschiedlichen Empfindlichkeit des Transmitterstoffwechsels aus. Manche Menschen sind sehr sensibel, geringfügige Störungen lösen schon Unruhe und Bedenklichkeit aus. Andere stecken heftige Schläge ganz gut weg. Der Transmitterhaushalt dieser Menschen scheint einfach stabiler gelagert, so wie es ja auch Leute mit einem „Pferdemagen“ gibt, die fünf Currywürste auf einmal essen können.

Zu andern spielt der Charakter eine Rolle. Wodurch formt sich ein Charakter? Da gibt es erstens wieder erbliche Komponenten, zum Beispiel ein cholerisches oder ängstliches Temperament. Zweitens wirkt sich die Erziehung aus – wobei die meisten Eltern, oft unwillkürlich, in ihren Kindern jene Anlagen kultivieren, die bei ihnen selbst stark ausgeprägt sind. Kinder richten sich nun einmal mehr nach ihren Vorbildern als nach guten Lehren. Drittens formen außerfamiliäre Erlebnisse die Wesensart: Wer früh Kummer und Not erleben musste, wird sich anders entwickeln als ein Kind, das stabile Zuwendung und Wohlstand genießen durfte. Unser Charakter macht viel aus bei der Frage, wie wir mit Belastungen fertig werden.

Schließlich sind immer auch die aktuellen Lebensumstände bedeutsam. Wir brauchen eine gewisse Sicherheit und ein paar gute Aussichten, um auf Dauer psychisch gesund zu bleiben.

Diese drei Ursachen depressiver Erkrankungen bedingen drei unterschiedliche Behandlungsansätze. Den gestörten Transmitterhaushalt sucht der Psychiater mit Medikamenten in Ordnung zu bringen. Man sollte diese Mittel nicht vorschnell verteufeln. Es ist sehr schwer, mit Belastungen fertig zu werden, wenn erst die Botenstoffe verrücktspielen. Wer ein Antidepressivum empfohlen bekommt, sollte ruhig einen Versuch machen. Es gibt heute gut verträgliche Medikamente, die den Patienten wieder in den Stand versetzen, seine Situation mit klaren Sinnen zu betrachten.

Die Psychotherapie wendet sich dagegen an Charakter und Persönlichkeit des Menschen. Zunächst einmal wird man feststellen wollen, aus welchen Gründen die Depression ausgebrochen ist. Manche Leute wissen das selbst, sie sagen zum Beispiel: „Nach dem Tod meines Partners“. Andere finden ihre eigene Krankheit völlig unverständlich. Dann ist die Ursache der Depression dem Patienten unbewusst. Überhaupt kommt oft eine große unbewusste Komponente dazu. Manche Patienten können zwar ein auslösendes Ereignis benennen, übersehen dabei aber – vielleicht um sich nicht zu sehr zu erschrecken – andere Stressfaktoren, die Außenstehenden auffallen. Es kann eine Weile dauern, bis der Patient selbst ein Gefühl für den Zusammenhang zwischen lebensgeschichtlichen Belastungen und seinen Reaktionen darauf bekommt. Ist es erst soweit, kann man an der Bewältigung der krankmachenden Umstände arbeiten. Dann zeigt sich oft, dass der Patient von seinem Charakter her gerade jenen speziellen Anforderungen, die sein Schicksal an ihn stellt, nicht optimal gewachsen ist. Man wird überlegen, wie er sich verändern, welche Fähigkeiten er ausbauen muss, um besser zurechtzukommen. Manchmal steht er sich mit Ängsten oder Wünschen selbst im Wege. Diese wird man bewusst machen und auf ihren Gehalt prüfen wollen. Bei einer Depression erwarten wir hinter dem “Gefühl der Gefühllosigkeit” verborgen übrigens eine ganze Menge Emotionen, die allerdings so heftig sind, dass die Betroffenen gleichsam an ihnen ersticken und dann gar nichts mehr empfinden. Solche unbewussten Emotionen sind nie von der angenehmen Art: Es geht um Schuld, Scham, Kränkung, Wut, Machtlosigkeit in einem Ausmaß, das bewusst nicht mehr ertragen wurde. In einer Therapie sollen die unterdrückten Affekte allmählich zugänglich gemacht und angemessen verarbeitet werden, so dass sich die gesamte Fähigkeit zu Fühlen wieder belebt.

Was die aktuellen Lebensumstände angeht, können wir in Deutschland glücklicherweise auf eine gewisse staatliche Fürsorge hoffen. Das Versorgungsamt, das Jugendamt und andere Behörden kümmern sich darum, dass unzumutbare Armut, Gewalt oder Einsamkeit von den Bürgern abgewendet werden. So einigermaßen wenigstens. Dies entbindet uns natürlich als Einzelpersonen wie als Teil einer Gemeinschaft nicht von der Pflicht, uns angemessen füreinander und für uns selbst einzusetzen. Es ist nun einmal schwierig, die gute Ordnung aufrechtzuerhalten. Da ist der Einsatz eines jeden gefordert.

Hier nenne ich einige typische Belastungsfaktoren, die zu Depression führen können:

Im Falle einer Depression kam man mit Fug behaupten: „Von nichts kommt nichts“. Vielmehr treffen oft mehrere Belastungen unglücklich zusammen.

Abschließend ein paar kurze Beispiele, welche Charakterzüge in welchen Situationen problematisch werden können:

Sehr spannend und komplex, aber doch nicht undurchschaubar. Wenn wir erst wissen, woher die Schwierigkeiten rühren, steigen die Aussichten, dass wir mit unsern menschlichen Möglichkeiten das Leben wieder meistern.