Ein alter Medizinerspruch lautet: Vor die Therapie haben die Götter die Diagnose gesetzt. Der dissoziative Formenkreis stellt hier besondere Herausforderungen. Manche Symptome sind rasch diagnostiziert: Wenn jemand unter Wahrnehmungsveränderungen, zum Beispiel unter Derealisation leidet, wird er das selbst als Störung benennen. Anders bei amnestischen Episoden, die den Patienten selber anfangs unbewusst sind. Diese Problematik wird man erst erkennen, wenn man auf gewisse Warnzeichen achtet:
- Klagen darüber, dass die Arbeit kaum von der Hand gehe, kein Ende nehme, obwohl man vermeintlich ständig damit zugange ist.
- Häufig verpasste Termine, Missverständnisse, Vergesslichkeit.
- „Ungerechte“ Vorwürfe, man habe „gelogen“ oder „geschlafen“.
Die obigen Probleme führen in ihrer Gesamtheit nicht selten zu Arbeitsplatzkonflikten, die den Patienten selbst unbegreiflich sind und alle Beteiligten an den Rand der Verzweiflung bringen.
Weitere gravierende Signale:
- Unerklärliche Vorgänge im eigenen Haushalt, Sachen „verschwinden“ oder „tauchen einfach auf“.
- Wiederholte „Black outs“ bis hin zu Bewegungsstarre oder Ohnmacht.
- Kindheitsamnesie, das heißt kaum Erinnerungen vor dem zehnten Lebensjahr.
- Selbstschädigendes Verhalten.
Bei solchen Auffälligkeiten sollte man gezielt auf Dissoziation explorieren, am besten mit Hilfe eines Fragebogens (zum Beispiel Dissociative Experience Scale II, kurz DES II), und zwar dann, wenn schon ein Vertrauensverhältnis entstanden ist. Ansonsten riskiert man, dass der Patient keine verlässlichen Auskünfte gibt, denn dieses Störungsbild wird als besonders abwegig und mithin beschämend empfunden.
DES II fragt nach dissoziativen Erfahrungen. Aus den Antworten des Patienten errechnet sich ein Punktwert zwischen 0 und 100. Werte ab 25 weisen auf eine schwere Dissoziative Störung hin. Ein Wert unter 10 entspricht dem Normbereich. Ab Werten von zehn stellt die „Geistesabwesenheit“ und „Schusseligkeit“ noch keine Krankheit dar, manchmal aber ein Charaktermerkmal, das praktische und soziale Probleme bedingen kann. Viele Patienten mit affektiver oder Angst-Störung liegen trotz ausgeprägter Angst und Depression in der DES II unter 10, das heißt, vom Grundcharakter her ist Dissoziation ihnen eher fremd. Menschen, die persönlichkeitsbedingt zu starker Anspannung und Erregung neigen, wie zum Beispiel bei der Borderline-Störung, liegen in der DES II durchschnittlich bei 20.
Menschen, bei denen sich nach eingehender Diagnostik krankheitswertige Dissoziative Störung ergibt, haben oft schon bei der ersten Anamneseerhebung traumatische Erlebnisse geschildert. In solchen Fällen betrachtet man die Dissoziative Störung als traumatisch verursacht. Eine Dissoziative Störung ist aber nicht identisch mit einer „Posttraumatischen Belastungsstörung“ (PTBS). Umgekehrt erfordert die Diagnose PTBS nicht zwingend eine dissoziative Symptomatik mit Bewusstseinslücken und Wahrnehmungsstörungen. Kennzeichnend für PTBS sind vor allem aufdringliche Traumaerinnerungen (Intrusionen), Vermeidungsverhalten, Schreckhaftigkeit und Affektlabilität. Bis zu einem gewissen Umfang (Anhaltspunkt: DES II unter 25) können dissoziative Symptome unter der PTBS subsummiert werden. Natürlich kann auch eine vorwiegend depressive Symptomatik mit Niederstimmung, Antriebsverlust, Grübelzwang die Folge von traumatischen Erlebnissen sein, dann diagnostiziert man aber eine Depression. Bei vorwiegenden Ängsten eine Angststörung, bei vorwiegendem Zwang eine Zwangsstörung und so weiter, auch wenn Traumatisierung vorliegt. Eine PTBS wird nur bei der speziellen oben genannten Symptomatik diagnostiziert. Natürlich können mehrere psychiatrische Diagnosen nebeneinander bestehen. Grundsätzlich fordert die „Internationale Klassifikation von Krankheiten“ (aktuell ICD-10) für die Diagnose PTBS das Vorliegen von „Ereignissen von außergewöhnlicher Bedrohung“ in der Vorgeschichte.
Wichtig: Dissoziation ist kein zwingendes Anzeichen für „Trauma“. Gerade bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen kommen dissoziative Symptome durchaus als Ausdruck einer altersspezifischen Konfliktsituation vor (zum Beispiel in Liebe oder Ausbildung). Hier muss ohne suggestive „Vorahnungen“ mit dem Patienten zusammen die Ursache für den inneren Druck ergründet werden. Nur er wird einem sagen können, was ihn unter Spannung gebracht hat, und er muss es ja oft selbst erst im gemeinsam tastenden Gespräch herausfinden. Man muss sich auf Therapeutenseite also hüten, etwas in die Patienten „hinein zu fragen“.
Die meisten Menschen, die Traumaerfahrungen besitzen und als psychisch Kranke Hilfe suchen, deuten sofort oder auf kurzes Nachfragen ihre Erlebnisse an, auch wenn es sie Mühe kostet, da sie ihre Behandler ins Bild setzen wollen. Ein Sonderfall sind Personen mit Dissoziativer Persönlichkeitsstörung, deren Traumaerinnerungen nur in einzelnen Selbstanteilen vorliegen. Hier stellt sich zunächst wieder die Frage: Wie diagnostiziert man „Selbstanteile / Ego-States“ und mithin eine Dissoziative Persönlichkeitsstörung? Auch zu diesem Zweck wurden Fragebögen entwickelt, zu finden beispielsweise in dem Buch „Traumabedingte Dissoziation bewältigen“ von Boone, Steele, van der Hart. Bei einem DES II-Wert über 25 wird man weiter explorieren, ob eine Störung mit Selbstanteilen vorliegt.
Besteht eine Dissoziative Persönlichkeitsstörung, wird es mit der Anamneseerhebung schwieriger, weil die Erinnerung, die ja sowieso ein schlüpfriges Etwas ist, sogar subjektiv betrachtet nicht mehr kohärent (durchgehend) und konsistent (in sich stimmig) vorliegt. Was soll man davon halten, wenn die Anscheinend Normale Persönlichkeit Traumaerfahrung verneint, dann aber das System switcht, und eine Emotionale Persönlichkeit auftaucht, die von Trauma berichtet? Was, wenn die ANP zwar nicht switcht, aber darüber klagt, dass „irgendwo innen“ ein Selbstanteil vor Angst vergeht und alle Menschen für Täter hält? Soll man den Betroffenen dann einfach erklären, dass sie offenbar traumatische Erfahrungen hatten?
Ich glaube, damit muss man sehr vorsichtig sein. Freilich haben die EP`s oft eine hohe Überzeugungskraft für die Therapeutin, denn schließlich würden die hier vertretenen Inhalte das Störungsbild erklären. Aber es liegt eine Gefahr darin, sich mit den EP‘S gegen die ANP zu „verbünden“. Die ANP enthält schließlich die „normalsten“ Anteile, diese sollen nicht erdrückt, sondern mit Hilfe der PT weiterentwickelt und gestärkt werden. Man darf sich als Ärztin auch nicht einbilden, man müsse jetzt nur mal Klartext reden, und dann werde es den Patienten schon wie Schuppen von den Augen fallen, so dass sie endlich die Ursachen ihrer Störung begreifen. Wenn es so einfach wäre, hätten ja gar keine Ego-States entstehen brauchen. Denn angenommen, der Mensch, zu dem die ANP gehört, hatte traumatische Erfahrungen, warum weiß dann die ANP nichts davon? Doch offenbar, weil die Fähigkeit zu erinnern gestört ist, psychodynamisch und / oder neurologisch bedingt. Als Ärztin WEISS man über das Leben seiner Patienten streng genommen gar nichts. Man bekommt nur etwas erzählt – ob es stimmt? Das überprüft man ja kaum, man lässt sich nicht einmal das Geburtsdatum im Pass zeigen. Der bei jeder PT unabdingbare Vertrauensvorschuss macht, dass man den Patienten die biographischen Daten bei ausreichender Plausibilität einfach glaubt. Wenn wesentliche Fakten nicht oder nur bruchstückhaft erinnert werden; wenn die Diagnostik Dissoziative Störung ergibt, darf man also höchstens die HYPOTHESE (Behauptung) aufstellen, dass Traumaerfahrungen vorliegen könnten. Und auch damit ist man besser vorsichtig, weil jede solche Behauptung eine suggestive Kraft hat, die womöglich auf Irrwege führt.
Die Ärztin hält sich also lieber mit happigen Hypothesen und somit auch der Diagnose PTBS zurück. Stattdessen begibt sie sich mit den Patienten auf die therapeutische Reise zu den dissoziierten Selbstanteilen. Die ANP soll ihrerseits die EP’s nicht nur weiter vermeiden und strangulieren. Vielmehr sollen die Patienten eines Tages in der Lage sein, die Botschaften ihrer EP’s zu durchdenken und zu durchfühlen, und allmählich selber spüren und entscheiden, wie viel Wahres ihrer persönlichen Geschichte hierin enthalten ist. Sollte eines Tages der Gehalt der EP’s bei aller Schmerzlichkeit als stimmig empfunden werden, sollte es vielleicht sogar zur Re-Integration von ANP und EP kommen, dann ist die „Dissoziative Störung“ an dieser Stelle überwunden.
Diagnosen müssen in Deutschland nicht nur gestellt, sondern auch nach einem Diagnosenkatalog (zum Beispiel ICD-10) verschlüsselt und dokumentiert werden. Einige Diagnosen aus dem dissoziativen Formenkreis laut ICD-10:
- Dissoziative Amnesie (F44.0) bei vorwiegend gravierenden Erinnerungslücken
- Dissoziativer Stupor (44.2), entspricht Hypoarousal
- Depersonalisations-/ Derealisationssyndrom (F48.1)
- Multiple Persönlichkeitsstörung (F44.81). Hier, könnte man meinen, haben wir die Diagnose für eine Dissoziative Persönlichkeitsstörung mit Selbstanteilen. Allerdings wurden die diagnostischen Anforderungen für F48.1 sehr hoch gelegt, zum Beispiel heißt es: „Jede Person hat ihr eigenes Gedächtnis, ihre eigenen Vorlieben und Verhaltensweisen und übernimmt zu einer bestimmten Zeit (…) die volle Kontrolle über das Verhalten der Betroffenen.“ (ICD-10 Kapitel V (F), S.128 ff). Ein derart weitgehendes Störungsbild erschien manchen Fachleuten schon wieder unglaubwürdig, so dass verschiedentlich behauptet wurde, diese Krankheit existiere gar nicht: Vielmehr seien die Patienten erst durch gewisse Fehlsuggestionen ihrer übereifrigen Therapeuten in ihren Zustand gebracht worden. So geriet die Diagnose etwas in Misskredit. Tatsache ist: Ob die Symptomatik im Einzelfall wirklich den umfangreichen Vorgaben von F44.81 entspricht, ist ohnehin schwer festzustellen. Daher wird man sich als Behandler eines Patienten mit objektiv eruierten Selbstanteilen nicht endlos den Kopf darüber zerbrechen, ob jetzt jeder Ego-State wirklich ein ganzes eigenes Gedächtnis hat und zweitweise komplett die Kontrolle übernimmt. Vielmehr greift man auf eine andere Diagnose zurück, die freilich „Sammelbeckencharakter“ hat:
- Nicht näher bezeichnete Dissoziative Störung (F44.9). Die Möglichkeit, diese unspezifische Diagnose für seltene dissoziative Störungsbilder zu nutzen, die sonst nirgends recht hinpassen, räumt die ICD ausdrücklich ein. Hiermit werden dissoziative Störungsbilder mit Selbstanteilen oder einem großen Reichtum dissoziativer Symptome gewöhnlich verschlüsselt.
Nochmals zur Differentialdiagnostik dissoziativer Störung drei Beispiele:
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Herr A, schizoider Charakter nach Kindheit mit cholerischem Vater, trifft im Flur auf Kollegin B, die er als beunruhigend tüchtig erlebt. Im plötzlichen Unbehagen geht seine Wahrnehmung ganz ohne bewusstes Zutun und selektiv auf Tauchstation. Jetzt sieht er zwar noch den Flur, aber nicht mehr Frau B und schreitet ungerührt an ihr vorüber. Frau B vermerkt entnervt: „Der hat mich wieder nicht gegrüßt, der Blödmann. Oder liegt es an mir?“ Herr A ist sich nicht der Frau B und schon gar keiner Schuld bewusst. Frau B dagegen strengt sich an, noch tüchtiger zu werden. Sie hofft, auf diese Weise endlich so viel Beliebtheit zu erlangen, dass jeder sie grüßt. Auf diese Weise könnte sie einmal ein „Burn out“, sprich eine Depression (aus Frust und Überarbeitung) bekommen, aber vielleicht wird sie auch befördert und freut sich über den Zuwachs an Gehalt und Bedeutung.
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Frau C, Dissoziative Störung bei Traumavorgeschichte, trifft Kollegen A von oben. Das unbewegte Gesicht, das der geistesabwesende Herr A in diesem Moment zeigt, triggert bei Frau C die Erinnerung an die starren Augen des früheren Täters. Frau C fällt in Ohnmacht. Herr A ist entsetzt, fragt sich, ob er womöglich etwas falsch gemacht hat, kommt aber nicht dahinter. Seine Angst und somit auch seine Neigung zur Dissoziation wachsen. Frau B erscheint und kümmert sich tüchtig um Frau C. Diese erwacht. Immer noch hängt die alpdruckhafte Erinnerung an den Täter über ihr. Zugleich schämt sie sich für ihre Ohnmacht. Der Zwischenfall untergräbt ihr von jeher wackliges Selbstvertrauen weiter – Angst und Dissoziation nehmen zu.
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Herr D erleidet eines Tages in seinem Büro „einen Zusammenbruch“. Das heißt, er fängt zum Erstaunen seiner Zimmerkollegin Frau C ganz plötzlich an zu keuchen, wird bleich und ruft nach dem Notarzt. Frau C organisiert den Arzt, Herr D wird ins Krankenhaus gebracht, erscheint aber nach drei Tagen wieder im Dienst. Frau C erkundigt sich und erfährt, es sei nichts Körperliches festgestellt worden. Sie bekommt einen Verdacht und fragt vorsichtig nach – aber nein, Herr D hatte offenbar die normalste Kindheit der Welt. Allerdings lebt er in Scheidung und wird das mit viel Eigenleistung errichtete Haus verkaufen müssen. Frau C erfährt, dass Herr D den neuen Freund seiner Frau am liebsten umbringen möchte (sie hört das nicht gern). Er versichert aber gleich, dass er es nicht tun wird. - Nach zwei weiteren solchen Zusammenbrüchen begibt sich Herr D zermürbt in PT und erfährt, dass er an einer „Panikstörung“ leidet. Es stellt sich heraus, dass schon seine Mutter eine schreckhafte Person war. Bei ihr lernte er, sich zurückzunehmen. In der PT soll er lernen sich zu wehren, aber ohne Mord und Totschlag und am besten, ehe gravierende Schäden eingetreten sind. (Angststörungen treten oft familiär gehäuft auf, teils aufgrund eines vererblichen konstitutionellen Faktors, teils bedingt durch einen ängstlich-hemmenden Erziehungsstil betroffener Eltern.)
Alles klar 😉? Therapieansätze folgen.