Ich beschäftige mich nun in einer Folge von mehreren Artikeln mit dem vielgestaltigen Störungsbild der „Dissoziation“. Auf Deutsch bedeutet das Wort „Trennung“. Es wird immer dann verwendet, wenn eine solche Menge psychischer Inhalte und Zusammenhänge dem Unbewussten anheimfallen (also vom Bewusstsein „abgetrennt“ werden), dass sich Informationslücken einstellen, die schlüssiges Denken, Fühlen und Handeln und damit Selbstverständnis und Realitätsbewältigung entscheidend behindern.

In kleinem Umfang gehört die Dissoziation zur seelischen Gesundheit und wird dann als „Geistesabwesenheit“ bezeichnet oder als „in Gedanken sein“: „Habe ich mir schon die Zähne geputzt oder nicht?“ Manchmal wird eine Situation nicht wahrgenommen, weil man sich innerlich gerade ausruht oder bei wichtigeren Dingen ist. Manche Menschen denken während des Autofahrens nie an den Verkehr – den beherrschen sie reflexhaft-, sondern erholen sich bei angenehmen Gedanken oder im geistigen Nirgendwo. Viele Leute finden das Autofahren daher entspannend. Die Aufmerksamkeit ist gerade soweit gebunden, dass sie nicht zu unliebsamen Themen davongaloppieren kann, aber es bleibt genügend geistige Kapazität zu Wachträumen. Manche Menschen verleben ihren ersten Arbeitstag nach dem Urlaub im Zustand halber Dissoziation: Sie können sich noch nicht auf den beruflichen Stress einlassen und „gehen um wie Falschgeld“. Weil sich das aber komisch anfühlt und auch, weil die berufliche Kondition wiederkehrt, enden solche Zustände meist von selbst.

Das Bewusstsein erhält Zustrom von zwei Quellen: Aus dem Außen – den Dingen, die wir erleben, von denen wir hören oder lesen; und aus dem Innen – aus unsern Erinnerungen, sowie den Gefühlen und Gedanken, die aktuell in uns aufkommen. Wobei viele Vorgänge – äußere und innere – nie ins Bewusstsein vorstoßen, sondern im Unbewussten verbleiben. Man könnte sagen, alles, was bewusst wird, hat schon mehrere Schleusen passiert. Doch auch das Unbewusste behält längst nicht alles. Vieles Unwichtige wird sogleich vollständig vergessen. Es gibt aber den Fall, dass seelische Inhalte unbewusst vorhanden, aber nicht bewusstseinsfähig sind, weil sie zu belastend oder verwirrend wirken würden. Inhalte, die quasi zu sperrig sind, um bis ins Denken vorzustoßen. Oder, wie man psychoanalytisch sagt: Die der seelischen Abwehr unterliegen. Die seelische Abwehr ist freilich kein bewusster Vorgang. Wir steuern ihn ebenso wenig willkürlich wie unsere Verdauung. Genau wie im Darm vollzieht sich in unserer Seele ein weitgehend autonomer Prozess, bei dem seelische Inhalte bis zur Bewusstseinsebene gebracht werden oder nicht.

Wie Dissoziation entsteht

Grundsätzlich bedeutet Dissoziation, dass man nicht „bei der Sache ist“. Im guten Fall, weil „die Sache“ nicht viel Aufmerksamkeit fordert. Im schlechten, weil sie eine Überforderung darstellt, so dass die seelischen Verarbeitungskapazitäten überlastet sind. Der „Arbeitsspeicher“ der Seele reicht nicht aus – so wie der Computer einen „system overflow“ anzeigen kann, wenn man ihn zu viel gleichzeitig rechnen lässt.

Wenn wir mit zu vielen Aufgaben eingedeckt sind, treten Bewusstseinslücken ein, das kennt jeder: Wer zum Beispiel in Eile ist und noch hastig ein paar Dinge erledigen will, schubst aus Versehen seine Tasse vom Tisch – die Tasse war durchaus sichtbar, aber die Wahrnehmungsverarbeitung reichte nicht aus. Das kann passieren, sollte aber kein Dauerzustand werden. Nun gibt es unterschiedliche Reaktionsformen im Stress. Manche Menschen können selbst unter permanent schwierigen Umständen effektiv handeln. Man spricht von „Resilienz“: Die seelischen Bewältigungskapazitäten sind hoch. Das kann zum Teil konstitutionell, also anlagebedingt sein – mancher Leute Gehirne „laufen sehr stabil“ und „rechnen sehr schnell“. Beneidenswert, aber so ist es  ja immer, nicht alle Menschen sind gleich: Der eine hat schöne Augen, der andere „gute Nerven“. Neben diesen angeborenen Faktoren spielen die Umstände, unter denen die Hirnreifung stattfand, eine große Rolle. Auch hier unterscheidet sich der seelische Apparat nicht von andern Körpersystemen: Wer zum Beispiel als Kind stets gut zu essen erhalten hat, erreicht eine andere Größe als ein Mensch, der in Hungergebieten aufgewachsen ist. Wer während seiner Kindheit ständig mit Schrecken konfrontiert war, hat weniger festgefügte seelische Strukturen als jemand, der in sicheren Verhältnissen sein Potenzial ungestört entfalten konnte. Stark dissoziierende Patienten weisen oft frühe – kindliche – traumatische Erfahrungen auf; meist ein chronisches Belastungserleben, das die seelischen Kapazitäten überfordert hat, so dass die entsprechenden Eindrücke nicht ausreichend verdaut wurden und diese „Verdauungsschwäche“ als dauerhaftes Problem geblieben ist. Bildlich gesprochen: Ein Verdauungssystem, das ständig mit „giftigen“ Inhalten konfrontiert ist, wird auf Dauer selbst „vergiftet“ und nimmt Schaden. Durch die anhaltende Überforderung kindlicher Verarbeitungsmechanismen ist die „Verbindung“ zwischen Bewusstem und Unbewusstem  gleichsam „brüchig“ geworden und funktioniert nicht mehr zuverlässig.

Man fasst Dissoziation allerdings nicht nur als „Defekt“ auf, sondern auch als Schutzmechanismus: Was nicht bewusst wahrgenommen wird, macht keine bewusste Angst. Man spekuliert, dass manche Wahrnehmungslücken nötig sind, um belastende Realitäten zu ertragen: So würde ein misshandeltes Kind vielleicht von tödlicher Verzweiflung erfasst, wenn es zur Gänze wahrnähme, dass es seine eigenen Eltern sind, die es quälen. Möglicherweise verändert sich die Wahrnehmung unter solchem Druck dahin, dass die schlechten Seiten der Eltern bis zu einem gewissen Grad ausgeblendet bleiben. Doch wird dieser Schutzmechanismus irgendwann leider zum Handicap: Die Informationsweitergabe ist nicht mehr verlässlich, das „Leitungskabel defekt“, denn der Mechanismus der selektiven Wahrnehmung ist schon so oft benutzt worden, dass er spontan und unerwünscht einsetzen kann. So treten bei vorgeschädigten Personen dissoziative Symptome oft schon unter Belastungen auf, die von andern Menschen toleriert würden, ohne dass ihnen „die Sinne schwinden“. Man könnte auch sagen: Bei manchen „laufen die Leitungen schneller heiß“, und Dissoziation bedeutet dann eben, dass die „Sicherung rausgeflogen ist“. Eine Sicherung springt raus, um Kabelbrände zu verhindern – und so verhindert die Dissoziation vielleicht tiefere geistige Zerrüttung.

Welche grundlegenen Formen von Dissoziation gibt es?

1) Dissoziation auf Körperebene:

Manche Gefühlszustände werden von uns nicht als solche wahrgenommen. Wenn wir uns erschrecken, wo wir uns nicht erschrecken wollen, zum Beispiel im Beruf, ist es möglich, dass wir das Gefühl nicht als solches wahrnehmen, sondern nur die zugehörige Körperreaktion, etwa den Schwindel oder den Schweißausbruch. Auch ist es möglich, dass belastende Überzeugungen nicht die Form von Gedanken annehmen, sondern mit Hilfe des Körpers zum Ausdruck gebracht werden. So können Rückenschmerzen entstehen, wenn ein Zustand als „unerträglich“ empfunden wird. Dissoziativ bedingte Körpersymptome benötigen oft viel Aufmerksamkeit, ehe die psychischen Zusammenhänge entdeckt und in der Zusammenarbeit mit den Patienten therapeutisch zugänglich werden.

Neben geistigen Vorgängen können auch körperliche Befindlichkeiten wie Hunger oder Harndrang der Dissoziation anheimfallen, wenn diese als zu belastend bzw. unbedeutend empfunden werden. Dass die Vernachlässigung solcher Bedürfnisse Probleme nach sich zieht, versteht sich von selbst.

2) Dissoziation als charakterprägendes Merkmal:

Manche Menschen haben haben die Eigenart, dass sie “nicht immer alles mitbekommen”. Der “zerstreute Professor” oder der “Schussel” sind häufig mit ihren Gedanken woanders. Natürlich rennen sie nicht gegen Wände, aber ob die Wand nun rot oder weiß ist, bemerken sie nicht. Das Äußere wird ihnen nur teilweise bewusst. Menschen haben immer eine subjektiv verfälschte Wahrnehmung, aber manche Personen sind deutlich verpeilter als der Durchschnitt. Ihre Umgebung findet das lästig: “Hör doch mal zu! Hast du das nicht gesehen?” Nein, hat er nicht, findet das aber selbst nicht schlimm. Im Gegenteil, eine allzu wache Wahrnehmung brächte vielleicht nur Unruhe in die Seele - die Welt ist im Detail oft verwirrend. Diese Leute fühlen sich keineswegs krank und können ihr Leben trotz ihrer dissoziativen Schrullen so gut bewältigen, dass die Dissoziation hier nicht als störungswertig zu betrachten ist.

Noch eigentümlicher wird es bei Menschen, die ihre eigenen INNEREN Vorgänge nicht bewusst zur Kenntnis nehmen, obwohl in ihnen durchaus Wesentliches vorgeht. Beispiel: Aggressiver Impuls, weil einen der Chef spöttisch behandelt. Vielleicht denkt man nur: “Fieser Typ!", verzichtet aber auf einen offenen Konflikt. Vielleicht denkt man auch gar nichts, weil man drüber steht. Vielleicht träumt man nachts davon, wie man dem Chef eine runterhaut und wacht erstaunt und erfreut auf - man hätte sich soviel Aggression gar nicht zugetraut, und im Traum darf es ja mal sein. Dazu würde man sagen: Die Aggression war verdrängt, so vollständig ins Unbewusste abgewehrt, dass im wachen Zustand gar nichts mehr davon zu spüren war. Von Dissoziation würde man sprechen, wenn man die Aggression zwar selbst nicht merken würde, aber trotzdem eine so feindselige Haltung einnähme, das sie außenstehenden Beobachtern auffiele. Die Verdrängung ist also unvollständig, der abgewehrte Impuls kommt zwar nicht zu Bewusstsein, wird also auch nicht verbalisiert, jedoch anderweitig, zum Beispiel durch Mimik und Tonfall, ausgedrückt. Man sagt, der Impuls wird agiert, aber nicht reflektiert - das Handeln ist nicht von entsprechenden Denkprozessen begleitet. Nun handeln Menschen sowieso ziemlich häufig spontan und intuitiv, ohne vorher klug nachzudenken. Bei manchen dissoziativ geprägten Charakteren wird aber ein bestimmter Impuls immer wieder unreflektiert auf eine problematische Weise ausagiert. Das kann zu sozialen Schwierigkeiten führen. Besonders häufig sind neben den aggressiven die sexuellen Regungen betroffen.

3)    Dissoziation auf Bewusstseinsebene:

Bei manchen Menschen setzt das Bewusstsein unter Stress ganz aus, sie werden ohnmächtig und stürzen nieder, wobei noch so viel Kontrolle erhalten sein kann, dass sie sich nicht ernsthaft wehtun (dissoziativer Anfall). In andern Fällen schwindet das Bewusstsein nicht ganz. Es gibt mehr oder weniger geordnete „Dämmerzustände“, in denen die Betroffenen wach erscheinen, geistig aber nur teilweise präsent sind. Außerdem kennt man Zustände, in denen die Menschen ihre Umgebung oder sich selbst merkwürdig verfremdet wahrnehmen. Manchmal in angenehmer Weise, das ist dann meist die Wirkung einer bewusstseinsverändernden Droge. Spontan einsetzende „Derealisation“ oder „Depersonalisation“ wird dagegen beklemmend empfunden.

Schon bei diesen Symptomen funktioniert das Bewusstsein zeitweise schlecht oder gar nicht, trotzdem ist häufig das Empfinden von Kohärenz erhalten. Die Patienten fühlen sich in ihrer Wahrnehmung beeinträchtigt, doch nicht im Empfinden eines kontinierlich vorhandenen Selbst. Dissoziation kann darüber hinaus bewirken, dass kein einheitliches Bewusstsein mehr existiert. Stattdessen liegen zwei oder mehrere Bewusstseinsbereiche nebeneinander vor, die wenig oder keinen Austausch untereinander haben. Informationen gelangen immer nur in gewisse Teilbereiche des Bewusstseins.

Diese Struktur kann sich unter chronischer Belastung früh im Leben entwickeln. Wie oben beschrieben, mag man an einen Verarbeitungsdefekt oder aber an einen Schutzmechanismus glauben. Aufgrund gewisser Auslöserreize schalten sich Bewusstseinsbereiche spontan ein oder verschwinden wieder zugunsten anderer. Die Informationen und Befindlichkeiten des einen Bereichs sind den andern nicht bekannt, und das ist unter Umständen ein schweres Handicap. Man spricht von „Dissoziativer Bewusstseinsstörung.“ Nicht alle Bewusstseinsteile sind gleich kompetent. Manche können früh entstanden und nie voll ausgereift sein, so dass sich die Betroffenen, wenn dieser Teil die Führung übernimmt, wie Kinder verhalten. Manche haben kein Gedächtnis und was sie erleben, selbst wenn alles gut läuft, wird nicht abgespeichert. In jedem Fall ist es sehr irritierend, wenn der eine Bewusstseinsanteil etwas tut, wovon der nächste, wenn er auftaucht, keine Ahnung hat.

Es gibt Menschen, die zunächst keine Diskontinuität ihres Bewusstseins kennen und erst in krisenhaften Zeiten dissoziative Symptome oder sogar getrennte Bewusstseinsteile entwickeln. Hier ist davon auszugehen, dass schon lange eine gravierende seelische Belastung bestand, die aber bis dahin komplett der Verdrängung unterlag. Erst wenn weitere Stressfaktoren hinzutreten, taucht die Dissoziation als Zeichen dafür auf, dass die seelische Bewältigungskapazität endgültig überlastet ist. Auch Psychotherapie kann Dissoziation auslösen, wenn verdrängte Inhalte zwar mobilisiert, aber noch nicht im Bewusstsein festgehalten werden können. Die Patientin erkennt in der Sitzung vielleicht etwas, das ihr, sobald sie allein ist, wieder vollständig entfällt, und fragt sich dann, worüber man eigentlich gesprochen hat. Dieser Effekt muss begrenzt bleiben, damit er nicht zu erneuter Destabilisierung führt, und sollte daher stets gut exploriert werden.

Mit diesen drei Formen von Dissoziation sowie den therapeutischen Möglichkeiten beschäftige ich mich in den folgenden Artikeln genauer. Nur kurz anmerken möchte ich, dass Dissoziation außerdem als Symptom neurologischer Krankheitsbilder auftreten kann. Auch Dissoziation infolge von Suchtmittelabusus diskutiere ich hier nicht weiter.