Ein gesundes Bewusstsein nimmt sich selbst und die Umwelt in einer genügend gleichmäßigen und realitätsadäquaten Weise wahr und sorgt für situationsadäquate Reaktionen. Dissoziative Veränderungen von Wahrnehmung und Bewusstsein können mit Rauschmitteln künstlich herbeigeführt werden. Uns interessieren hier aber dissoziative Bewusstseinsstörungen, die infolge seelischer Belastungen entstehen, punktuell oder chronisch auftreten und sowohl ein oft schweres Krankheitsgefühl bewirken als auch die Realitätsbewältigung beeinträchtigen.

Ich erkläre hier die wichtigsten Symptome dieses Formenkreises:

Derealisation: Eine Störung, bei der die Umwelt als seltsam verfremdet wahrgenommen oder manchmal gar nicht mehr wiedererkannt wird. Alles riecht, schmeckt, klingt unheimlich verändert.

Depersonalisation: Eine Störung, bei der die eigene Person als unheimlich verändert wahrgenommen wird. Die Betroffenen spüren sich weniger als sonst oder sind in einer Art erregt und angespannt, auf die sie keinen Einfluss zu haben scheinen. Manche Menschen erkennen sich im Spiegel nicht wieder, fühlen sich „wie abgeschnitten“, „aufgelöst“ oder meinen, sie agierten „auf Autopilot“. Manchmal nehmen sie körperliche Signale wie Hunger, Harndrang oder auch Schmerzen nicht mehr wahr. Neben der Übererregung genannt „Hyperarousal“ existiert auch eine Untersteuerung, als Hypoarousal oder „frozen state“ bezeichnet.

Intrusionen: Plötzlich einschießende psychische Inhalte, gegen die das Bewusstsein sich nicht wehren kann und die zur Gegenwart nicht passen. Das können „aufdringliche“ Erinnerungen an schlimme Erlebnisse sein – man würde lieber nicht dran denken, aber die Erinnerung taucht unabweisbar heftig auf und mit ihr die alten Gefühle. Es ist also nicht nur ein „Dran Denken“, sondern auch ein „Wieder alles Fühlen“, als ob gar keine Zeit vergangen sei. Die Zeit hat die Wunde nicht geheilt. Die Betroffenen könnten eigentlich ganz ruhig ihr Leben leben, da ihre Gegenwart sicher ist, sie werden jedoch von Intrusionen heimgesucht und gequält.

Intrusionen tauchen manchmal auch ohne den Gedankenanteil, also nur in Form von Gefühlen auf. Man denke an Panikattacken. Nun liegen nicht allen Panikattacken traumatische Ereignisse zugrunde, aber alle sind dissoziativ. Das heißt, es besteht keine aktuelle Ursache für die Panik, sondern es tritt nur das „nackte“, sprich abgespaltene Gefühl auf, egal ob neurotischen oder traumatischen Ursprungs. Die psychosomatische Überführung von Affekten in körperliche Symptome ist bei intrusiven Störungen ebenfalls häufig: So kommen beispielsweise Schwindel oder Kopfweh oder gar epileptisch anmutende, in Wahrheit aber dissoziativ bedingte Muskelkrämpfe und Zuckungen statt Angst oder Wut vor (Siehe: „Dissoziation auf die Körperebene“).

Intrusionen können durch spezielle Auslösereize getriggert werden. Die Betroffenen werden durch eigentlich harmlose Wahrnehmungen an etwas Beängstigendes erinnert. Manchmal lassen sich die Trigger leicht identifizieren, zum Beispiel ein Martinshorn, das an den eigenen Unfall denken lässt. Je stärker aber allein auf Symbole reagiert wird – zum Beispiel auf eine bestimmte Farbe – umso schwieriger wird es, den Zusammenhang nachzuvollziehen und umso „verrückter“ erscheint das unerwartete Gefühl. Nicht selten ist gerade den Betroffenen erst einmal unbewusst, was sie triggert.

Flashbacks sind ein Sonderfall von Intrusionen. Hier kommen Erinnerungen so bildhaft und nachdrücklich auf, dass sich die Betroffenen wie in die Vergangenheit zurückversetzt fühlen inclusive aller schrecklichen Empfindungen.

Amnesien: Amnesie bedeutet Erinnerungsverlust. Wichtige Bewusstseinsfunktionen setzen aus. In leichterer Form treten nur kurze Gedächtnislücken auf. Manchmal dauern diese aber auch Stunden. Während dieser Bewusstseinsstörungen agieren die Betroffenen manchmal scheinbar ganz normal („geordneter Dämmerzustand“), manchmal fallen sie auch auf („verwirrter Dämmerzustand“). Dann wird meist von außen interveniert. Geordnete Dämmerzustände können lange unerkannt bleiben, auch von den Betroffenen, die sich nur manchmal wundern, wann sie wohl dies und jenes eingekauft haben von dem, was sie in ihrem Kühlschrank finden. Dass sie Phasen haben, in denen sie sich unterhalten, ohne sich später daran zu erinnern, glauben sie nicht – weil sie sich ja nicht erinnern. Das führt oft zu Konflikten, besonders am Arbeitslatz, weil man im Dämmerzustand wenig durchdacht redet oder von Absprachen nachher nichts mehr weiß. Zudem arbeitet man im Dämmerzustand ineffektiver. Das fällt nicht unbedingt als krankhaft auf, aber das Team und die Betroffenen merken, es geht irgendwie nicht voran. Besonders die Betroffene verstehen nicht, woran das liegt. Wenn unsere Wahrnehmung erkrankt ist, nehmen wir Störungen an der Wahrnehmung natürlich erst recht nicht wahr. Vertrackt. So wie Leute, die eine Brille brauchen, das oft erst merken, wenn man ihnen die Korrekturlinsen vorhält: „Ach, so sieht das mit gesunden Augen aus!“ Während also Depressive sagen können, was sie haben: „Kein Antrieb, so verzweifelt!“, bekommt man kaum von jemandem zu hören: „Ich habe Wahrnehmungslücken!“ Deshalb muss man aufpassen, dass man das Problem nicht übersieht. Hinweise auf die Störung können unerklärliche Arbeitsplatzkonflikte oder das Gefühl persönlicher Ineffektivität und Klagen über „Blackouts“ sein. Längeres Arbeiten bringt typischerweise auch nichts, weil eben die nötigen seelischen Funktionen gestört sind. Ist man erst einmal über die Symptomatik aufgeklärt, kann man den „Zeitverlust“ besser nachvollziehen und dann auch abwenden lernen.

Die Fugue („Flucht“) ist ein spezieller Fall von verwirrtem Dämmerzustand: Die Betroffenen laufen weg und irren herum, begehen im schlimmsten Fall sogar Delikte. Dies passiert laut forensisch-psychiatrischer Exploration aber seltener, als es von Straftätern geltend gemacht wird. Vielmehr sind die wirklich Betroffenen meist in einer Art Panik und wollen sich verstecken. Im Extremfall setzt das Bewusstsein ganz aus, und es kommt zur Ohnmacht.

Bei den hier geschilderten Symptomen setzt das Bewusstsein zwar zeitweilig aus oder arbeitet gestört, ist aber als kohärentes, also zusammenhängendes Gesamtsystem erhalten. Es gibt auch Störungsbilder, bei denen diese Kohärenz verloren geht und das Bewusstsein in Fragmente zerfällt, die nur noch schwach miteinander verbunden sind. Man spricht dann von einer dissoziativen Persönlichkeitsstörung, die bis hin zur „Multiplen Persönlichkeit“ ausgeprägt sein kann. Davon im nächsten Artikel.